Home Rudolf Steiners "Werde, der du bist"

 

Kurt Brotbeck: Der Mensch - Bürger zweier Welten. Menschenkunde als Erziehungs- und Führungshilfe. Rotapfelverlag, Zürich 1972; gekürzte Ausgabe Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag 1986.

 

In einer kürzeren Fassung erschienen unter dem Titel „Der Mensch – Bürger zweier Welten“

in der Zürichsee-Zeitung, 9. Februar 1973

 

siehe auch:

Kurt Brotbeck: Durchbruch zur Menschenschule. Entwicklungswege zur Waldorf-Pädagogik. Schaffhausen: Novalis-Verlag 1982.

 

 

"Unser Wissen vom Menschen zu vertiefen und zu erweitern" – welch altehrwürdige, nie endende Aufgabe. Ihr widmet sich im Sinne der Anthroposophie Rudolf Steiners der durch sein Buch "Im Schatten des Fortschritts" (1969) bekannt gewordene Lehrer an einer Höheren Technischen Lehranstalt und Leiter von Kaderkursen, Kurt Brotbeck.

 

In. plastischer Darstellung, ebenso prägnant und verständlich wie liebevoll nähert er sich von vier Seiten dem Menschen in der Gemeinschaft.

 

Der erste Aspekt betrifft die vier Naturreiche: Mineralreich, Pflanzenreich, Tierreich, Menschenreich. Letzteres ist das Reich der Freiheit, in welches der Mensch als "erster Freigelassener der Schöpfung" (Herder) gestellt wurde. Hier hat er sich selbst zu erkennen und sich selbst zu werden. Dass Menschsein eine Menschwerdung ist, zeigt sich auch im Nachweis des Menschen als einer "physiologischen. Frühgeburt" durch Adolf Portmann. Im ersten extrauterinen Lebensjahr bilden sich im sozialen Kontakt "artgemässe Haltung, Bewegung und Sprache". Das Hineinwachsen in den Familienkreis, in die natürliche und künstliche Umwelt vermittelt die kulturelle Situation und Tradition.

 

Die Selbstentfaltung und -verwirklichung, ist also unlösbar verknüpft mit der Gemeinschaft. Es ist ein gegenseitiges Nehmen und Geben; den Forderungen an die andern treten die Forderungen an sich selbst zur Seite.

"Der Mensch ist der Erziehung und Bildung nicht nur fähig, sondern geradezu bedürftig ... Der Mensch kann und will lernen".

Dies unterscheidet ihn - nebst aufrechtem Gang und unspezifizierten Organen (Hand, Fuss, Kopf, Gebiss) - zusammen mit "Vernunft, Humanität und menschlicher Lebensweise" (Herder), also mit Geist, Sprache, Denken, Moral, Gewissen, Selbstbewusstsein und Personalität vorn Tier; statt "umweltgebunden und instinktgesichert" ist er "weltoffen und entscheidungsfrei" (Adolf Portmann), sucht seine geistigen Kräfte - ohne diejenigen des Herzens und der Leiblichkeit zu vernachlässigen - zu entwickeln.

 

Erzieher und Menschenführer haben zu beachten, dass die "Anlagen" (vor allem die Temperamente und Begabungen) genauso wichtig sind wie das "soziokulturelle Milieu“ und dass spezifische Entwicklungsgesetze das Werden der Person in der Gesellschaft bestimmen: Die Entwicklung- braucht Zeit und verläuft in Phasen, Schüben, unterbrochen von Ruhepausen.

 

Auf 80 Seiten schildert Brotbeck diesen Gang vom Greifen und Sichaufrichten über die Eroberung der Umwelt durch Bewegung und Sinnesübung sowie nachahmendes Sprechen bis zum Denken, religiösen (ausdruckshaften, magischen oder mythischen) Welterleben und Spielen.

 

Der "erste Gestaltwandel" vom Kleinkind zum Schulkind lässt sich am Zahnwechsel gut ablesen. Die ersten drei Schuljahre sollten der Pflege der "ästhetischen Funktion" dienen: Nebst Schreiben und Lesen sind im Spiel Gemüt und Phantasie zu fördern (Friedrich Schiller). Erst mit dem vierten Schuljahr tritt der musischen, bildhaften Erziehung die "kognitive" zur Seite. Die "Realien", lebensvoll geschildert und mit Lehrerautorität vorgetragen, erschliessen die Realität.

 

Der "zweite Gestaltwandel" leitet vom Schulalter ins Jugendalter über und lässt sich gliedern in Frühpubertät (7.-9. Schuljahr), in welcher sich der "Binnenraum der Seele" auftut und gleichzeitig die Ablösung der persongebundenen von der Sach- und Fachautorität gefordert ist.

Der Übertritt in eine höhere Mittelschule oder der Eintritt in die Berufslehre fällt meist mit der Hochpubertät zusammen. Der Jugendliche gerät in den Zwiespalt von Geschlechtstrieb und Schamgefühl.

Jugendkrise (Flegelalter) schliesst sich an. Lehrer und Lehrmeister müssen darauf bedacht sein, das Vertrauen in die Denkkräfte zu stützen, nicht zu unterminieren, damit die um das 18. Altersjahr drängend werdende "Sinnfrage" angegangen werden kann.

Wird der Konflikt zwischen "idealer Weltordnung", für die man sich begeistert, und verwissenschaftlicher, deshalb seelenloser Realität, aus der man sich in die Einsamkeit zurückzieht, nicht gelöst, führt das zu den Kurzschlüssen der Adoleszenz, zu den Selbstmordversuchen.

Deren Überwindung führt zur Mündigkeit und Handlungsreife und damit zur Ehefähigkeit. Jetzt ist die "Erziehung" abgeschlossen, der Mensch in die Freiheit und Eigenverantwortung entlassen. Der zu sich selbst Erwachte kann das "Werk der Gesellschaft" als "Werk seiner selbst" vollenden: Die Selbsterziehung beginnt.

 

Auch jetzt noch lassen sich Stufen. unterscheiden: In den "Wanderjahren" wird die Frage an die Welt gestellt: Was kann sie mir bieten? Die Sättigung an Konsum und Erleben anfangs der Dreissigerjahre bringt manchen dazu, sich zu etablieren, die Erfahrungen zu Erkenntnissen zu verarbeiten und dann "ganz aus dem Zentrum seines eigenen Wesens tätig zu sein": Der Subjektivierung der Welt folgt die Objektivierung bei anschliessender intensiver Selbstprüfung.

 

Das 42. Altersjahr bringt die Wendung nach innen; dem Streben nach äusserem Erfolg schliesst sich dasjenige nach innerem, im seelisch-geistigem Bereich an. Fortschreitend lösen sich die Kräfte des Intellekts vom Leib, dann die gefühlsmässigen (Fünfzigerjahre), bis sich schliesslich die frühen Kindheitskräfte zu "Kräften der Weisheit" verwandeln.

 

Merkwürdig, dass in dieser Schilderung der alterstypischer Entwicklungsstufen einerseits das weibliche Wesen fast völlig vernachlässigt wird, anderseits die :Erkenntnisse etwa von Jean Piaget und C. G. Jung keine Berücksichtigung gefunden haben.

 

Wenig überzeugt dann die anschliessende Lehre von den vier Temperamenten. Da kennzeichnen den Choleriker der "starke, wulstige Nacken" und die "kirschschwarzen, leuchtender Augen“, den Sanguiniker eine „lange und 'üppig entwickelte' Nase", "hellblonde Haare ... sowie die hellblauen offenen Augen", den Phlegmatiker "schwammiger Körper, weiche Haare, blasse Farbe, aschfarbenes Haar, nicht lebhaftes, mattblaues, graues Auge", den Melancholiker schliesslich "stark abfallende eckige Schultern", "eher grobklotzige" Beine und Füsse, blasse und eingefallene Wangen und "feine, glatte, anliegende" Haare - oft zieht er ein Bein nach.

 

Auch die sozialen Aufgaben dieser Temperamente sind enorm simplifiziert:

Choleriker = Führer oder Schmied;

Sanguiniker = Kontaktmensch oder Coiffeur und Schneider;

Phlegmatiker = treuer Arbeiter oder Koch;

Melancholiker = Grübler oder Fischer, Dichter oder Sozialpädagoge.

 

Schon diese Andeutungen. zeigen, dass "unsere Zeit" von der Brotbeck häufig spricht, die jenige Rudolf Steiners ist. Der starb bekanntlich 1925 in Dornach.

 

Liebe Eltern: Wo, um alles in der Welt, ist es heute in Städten oder Vororten noch möglich, dass man sein (cholerisches) Kind dazu bringen kann,

"einen stattlichen Haufen Holz zu sägen und zu spalten, den Garten umzustechen, den Komposthaufen zu wenden, Sand zu führen oder dem Vater beim Mauern und Zementieren zu helfen"?

 

Was Brotbeck schliesslich zur Führung der Erwachsenen sagt, verliert sich noch mehr in unverbindliche Allgemeinheiten, die tagtäglich in der Zeitung breigewalzt werden. Schade, dieses Buch, das so begeistert anhebt, sinkt nicht nur in rückwärtsgewandte Sentimentalität, sondern in hilflose Platitüden ab, z. B.: "Demokratisierung" des Unterrichts "wäre ein Knospenfrevel an den Freiheitskeimen der Menschheit" oder: eine pädagogisch geführte Wirtschaft werde

"zu einer Saatstätte der Freiheit ... in einer ganz handwerklichen Verdichtung, die sich im Sieg des Menschen über sich selbst auszeichnet".

 

Zuviele Fragen bleiben offen: Wie lassen sich die Temperamente überhaupt feststellen? Wie können wir heute, 1973, unsere Kinder von Plastikspielsachen, Radio, Fernsehen, Kino und Drogen, von Verführungen und Reizüberflutungen aller Art fernhalten? Wie können wir unser "tagtägliches Tun mit spiritueller Wesenssubstanz" durchdringen und erfüllen? Oder kurz, wie setzen wir diese Theorien in die Praxis um; was sollen wir konkret, Schritt für Schritt, tun?

Charakterschilderungen von Beethoven, Philipp Suchard, C. F. Meyer, Kant usw. sowie die Beschwörung vertrauensvoller Liebe und lenkender Führung helfen wenig zur Bewältigung der Gegenwart.

 

Mit ehrlichem Bedauern muss man feststellen, dass Brotbeck dem anspruchsvollen Buchtitel nicht gerecht wird. Das mag daran liegen, dass er sein Buch aus Referaten, die er vor unterschiedlichstem Publikum gehalten hat, zusammenstellte. Das hat auch zur Folge, dass die vier Aspekte fast ohne Verbindung auseinanderklaffen und einander gar aufheben.

 

Am gravierendsten zeigt sich dies in der Diskrepanz zwischen den pauschalen Anweisungen zur "Erziehung der Temperamente" bei Kindern sowie im Betrieb und der doch ungemein nuancenreichen und differenzierten Darstellung des für die meisten Menschen "naturgesetzlichen" Lebensganges.

 

Auf solche Weise lassen sich die Geister, die wir riefen, nicht beherrschen - wie das der Klappentext verspricht. Leider.

 


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