Home Die Aufklärung ist nicht am Ende!

 

 

Wer ist eigentlich legitimiert aufzuklären? Was berechtigt jemanden, pauschal zu verkünden, die Aufklärung sei gescheitert?

 

Wissen und Einsicht, Erfahrung und Reife sind keine schlechten Ausgangspunkte. Aber wer kann beurteilen, ob und wieweit das Wissen stimmt? Und wie allgemeingültig sind die Erkenntnisse des individuellen Lebensganges?

Wer fragt, ist immerhin "auf dem Weg". Der "status viatoris" galt einst als Grundbefindlichkeit des Menschen. Damit verbunden ist die Hoffnung. Sie wuchs erneut aus den Schrecknissen des Zweiten Weltkriegs. Gabriel Marcel ("Homo viator", 1944), Ernst Bloch (1954-59) und andere haben sie ins Auge gefasst.

 

Hoffnung hat einerseits mit Offenheit (für die Zukunft), anderseits mit Glauben (an die Zukunft) zu tun. Wer sich und den andern diese Horizonte durch apodiktische Behauptungen verstellt, beraubt den Menschen nicht nur seiner Antriebe, sondern auch seiner Aussichten.

Mag die Rückschau auf den eigenen Lebensweg und die Menschheitsgeschichte auch noch so Erschütterndes enthüllen und mögen die Erwartungen der kommenden Dinge noch so ängstigen - ohne Perspektiven verharrt der Mensch in dem, was er sonst den übrigen Lebewesen zuschreibt,  im Vegetieren. Ernüchterung ist eine bittere Medizin. Doch soll sie, wie jede Arznei, den Menschen nicht lähmen, sondern stärken.

 

Dasselbe gilt für die Aufklärung. Sie ist ebenso schwierig wie gefährlich. Schwierig, weil der Aufklärer unablässig an sich selber arbeiten muss, gefährlich, weil sie beim Aufzuklärenden Verzweiflung hervorrufen kann.

 

Lange Wurzeln: Humanismus und Rationalismus

 

Die Aufklärung ist nicht über Nacht entstanden. Historisch gesehen ist sie vor 300 Jahren aus mehreren Gruppen von gegenläufigen Strömungen herausgewachsen. Die Renaissance entdeckte die Autonomie des Menschen (Petrarca, Pico della Mirandola), aber auch die Einheit von Natur und Geist (Cusanus, Paracelsus). Hatte sich das neue Selbstgefühl vorerst im Humanismus und im "uomo universale" (Alberti, Leonardo) konkretisiert, brach sich kurz nach 1500 die Idee der Reformation, vor allem aber der Lenkbarkeit die Bahn. Damit befassten sich auf je andere Weise Erasmus, Morus, Machiavelli, Melanchthon, Vives, Loyola.

 

Womit kann der Mensch die Geschicke seiner Mitmenschen und der Welt lenken? Mit der Vernunft. Zwar stellte sich dieser noch lange die Mystik (Böhme, Silesius, Swedenborg, Oetinger, Hamann) und Skepsis (Montaigne, Charron) entgegen, doch mussten ihr auch etwa Pascal und Bayle, Hume und Kant Tribut zollen.

Die Idee des Naturrechts (seit Oldendorp) und des Fortschritts (Bodin 1570) sowie die Parolen "Wissen ist Macht" (Bacon) und "messbar machen, was noch nicht messbar ist" (Galilei) beherrschten seit etwa 1600 die Szene, die fortan mit den Bezeichnungen Naturalismus (zuerst: Bruno, Hobbes), Sensualismus (Campanella, Hobbes), Realismus und Empirismus (für beide: Bacon), Rationalismus und Idealismus (für beide: Descartes) umschrieben wird.

 

Den Glauben an die Möglichkeit des Wissen und seine Wirkung fasste 100 Jahre nach dem Einsetzen der eigentlichen "Aufklärung" Kant (1784) mit der Formel: "Sapere aude!" Er hoffte, damit werde der "Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ möglich. Sein Appell richtete sich an den einzelnen: "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!" Das ist noch getragen vom Optimismus eines Pico della Mirandola (1476), der meinte, der Mensch könne sich nehmen und erwählen, was zu sein er nach seinem eigenen Willen beschliesse. Wie aber kommt er aus der Unmündigkeit heraus, wenn er sie selber verschuldet hat? Ist es ein Zufall, dass just zur Zeit Kants Baron von Münchhausen beichtete, wie er sich an seinen Haaren selber aus dem Sumpf zog?

 

Vervollkommne dich selbst, der Vormund ist blind

 

Das erinnert wiederum an den ersten Satz des ältesten erhaltenen ägyptischen Literaturwerkes (ca. 2600 v. Chr.): "Vervollkommne dich in deinen (eigenen) Augen! Hüte dich, dass nicht ein anderer dich vervollkommnen muss!" Die Paradoxie ist offensichtlich, folgen doch nachher Anleitungen zum richten Verhalten im Leben, mit der Absicht, den Belehrten vor Lehrgeld zu bewahren.

Die Lehre des Ptahhotep verfolgte dann ausdrücklich den Zweck, "den Unwissenden zum Wissen zu erziehen", warnte aber zugleich: "Sei nicht stolz auf dein Wissen ..., man kann die Grenzen der Kunst doch nicht erreichen."

 

Emanzipation aus eigener Kraft und Selbsterziehung auf der einen Seite, Belehrungen nach den Schemata "Wenn - dann" und "Du sollst" stehen also am Anfang der schriftlichen Überlieferung.

Das Dilemma ist bis heute geblieben, wie sich unschwer dem Sammelband "Selbstgesteuertes Lernen" (Heinz Neber et al., 1978) oder den Schriften von Paul Watzlawick entnehmen lässt. Mündigkeit ist eben "nur auf dem Wege über vormundschaftliche Lernhilfen zu erreichen" (Erich Weber, 1974).

 

Gerade diese "Vormundschaft" sei es aber, die selbstverschuldet sei, nicht die Unmündigkeit, hatte Hamann Kants Behauptung schon damals kritisiert. "Das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines Anderen zu bedienen" (Kant), sei "eigentlich keine Schuld", meinte Hamann, und das Unvermögen bestehe in "der Blindheit des Vormundes, der sich für sehend ausgibt und deshalb alle Schuld verantworten muss".

 

Wer also darf sich herausnehmen, andere zu bevormunden? Die Reflexion auf den eigenen Stand des Wissens und der Selbstvervollkommnung würde bald zur Vorsicht mahnen. Wer kann von sich behaupten, er habe "dem Wesen der Menschen auf den Grund geschaut" oder erkannt, "was die Welt im Innersten zusammenhält"?

 

Volksbildung und Anschauungsunterricht

 

Auch die Idee der Volksbildung entstand in der Renaissance. 1423 gründete Vittorino da Feltre in Mantua eine Schule, die als Vorläufer des modernen College oder der public school angesehen wird. Da die Reformation eine Massenbewegung wurde, trug auch ihre Bildungsreform zu einer beträchtlichen äusseren Verbreitung von - zumeist allerdings religiösem, sprachlichem und historischem - Wissen bei.

1530 wurde in Frankreich das College Royal, 1540 in Florenz die erste Laienakademie und 1576 in England das Gresham College gegründet. Bergwerks- und Seefahrtsschulen lehrten Praxis.

 

Das seit Campanella (1602) und Bacon, Ratke und Comenius verfolgte Erziehungsideal des Anschauungsunterrichts wurde erst in der Aufklärungszeit verwirklicht. A. H. Franckes Idee einer Verbindung von Frömmigkeit und Nützlichkeit in der "Realschule" breitete sich nach 1700 über ganz Europa aus, und zwar als anschaulicher "praktische Unterricht", der auf einer reichhaltigen Lehrmittelsammlung basiert.

 

Die bereits in der Renaissance vielfältig praktizierte Herstellung und Verwendung von Modellen hatte für die Öffentlichkeit im 17. Jahrhundert ihren Niederschlag in Modellsammlungen der sogenannter "Kunstkabinette" gefunden. Nunmehr überschwemmten Modelle als Abbilder, Vorbilder und Entwürfe von Bauwerken, Maschinen und Landschaften Museen, Schulstuben und Forschungsstätten.

 

James Watt war 1760 als Feinmechaniker mit der Betreuung der Sammlung an der Universität Glasgow beauftragt worden. Er lernte "am Modell". Zu diesem Zeitpunkt etablierte sich in Deutschland die "Technologie", die Untersuchung "der Handwerke, Fabriken und Manufakturen", als eigenständiges Fachgebiet. (Im Englischen war "technology" dafür seit 1615 in Gebrauch.) Marx war von dieser "ganz modernen Wissenschaft" fasziniert und forderte im "Kapital" (1867) einen umfassenden technologischen Unterricht.

 

Erziehung zur Mündigkeit unter polaren Einflussfaktoren

 

Die neuere Didaktik unterscheidet vier Erziehungsstile. Der „schichtspezifische“ und der „autoritäre" haben ein angepasstes Verhalten des jungen Menschen zum Ziel, der „antiautoritäre" glückliche Menschen und der „emanzipatorische" mündige Menschen. Die beiden ersten Stile scheinen altbewährt und unausweichlich, die beiden andern sind bis jetzt nicht so recht gediehen. Der "antiautoritäre" drückt sich um die Vermittlung des Verständnisses für die "Grundformen der sozialen Spielregeln" (vgl. Josef Pieper, 1933), der andere birgt die Gefahr, naseweise und vorlaute Kritik zu fördern. Mündigkeit erwächst nur auf dem Boden von Tradition und Toleranz, Takt und Treue.

 

Im einzelnen sind beim Erziehungs- und Bildungsgeschehen zahlreiche Gruppen polarer Einflussfaktoren zu beachten, beispielsweise:

 

1. Person und Charakter der Erzieher
Eigenart des zu Beeinflussenden

 

2. Erziehungs- oder Unterrichtsmethoden und -formen
Erziehungsinhalte und Unterrichtsziele

 

3. Sachlogik und formale Logik
Phantasie und Pathologie

 

4. Situation und aktuelle Befindlichkeit
institutioneller und gesetzlicher Rahmen

 

5. geschichtlich-kulturelle Lage und Strukturen
natürliche (z. B. genetische, physiologische, biophysikalische, klimatische) Gegebenheiten.

 

Auch Aufklärung hat auf diese vielfältigen Faktoren in ihren gegenseitigen Abhängigkeiten und Aufschaukelungen Rücksicht zu nehmen. Persönliche und gesellschaftliche Erfahrungen und Schwächen sind sorglich zu behandeln, soll Lernen überhaupt möglich, Sinn fassbar und die "Klarheit des reinsten Lichtes" sichtbar werden. Aufbau von Kompetenz geschieht nicht mit dem Holzhammer, noch mit dem Schwert.

 

Robert Winthrop White brachte 1959 den Begriff "Kompetenz" in die Motivationspsychologie ein; Chris Argyris führte 1962 die „interpersonale Kompetenz“, Noam Chomsky 1965 die "Sprachkompetenz" ein. Michael Argyle, Jürgen Habermas, Walter Volpert, Edward L. Deci und andere haben nachgezogen.

Sehr populär sind diese Konzepte nicht geworden. Liegt es daran, dass der Erwerb von Kompetenz nur durch eigene Anstrengung stattfindet, wo man doch lieber annähme, man verfügte selbstverständlich darüber? Und dann kommen die Lerntheoretiker erst noch mit der Forderung, „dass man es dem Lernenden nicht zu leicht machen darf, wenn man das Denken fördern will" (Rolf Oerter, 1971).

 

Falsche Propheten?

 

Aufklärung ist unbequem, für den Aufzuklärenden wie für den Aufklärer. Vom einen verlangt sie Bereitschaft und Aktivität, vom andern Wissen und Voraussicht. Wer löst diese Ansprüche ein?

Sind es etwa die falschen Propheten, welche die Aufklärung diskreditiert haben?

 

Politisch führt die Aufklärung zur Französischen Revolution. Unter der Diktatur Robespierres und seiner "Schwertträger" (1793/ 94) wurde Nôtre-Dame zum "Tempel der Vernunft" geweiht, das Christentum zugunsten des "Kultes der Vernunft" abgeschafft und das "Fest des höchsten Wesens" zelebriert. Der Hybris folgte der Sturz auf dem Fuss. Ein schwaches Direktorium und "die Vergnügungssucht der Pariser Gesellschaft" ebneten den Weg für eine neue Diktatur.

 

Kant gilt bereits als Überwinder der Aufklärung; die Guillotine hat ihr politisch den Garaus gemacht. Allerdings führen sie marxistisch-leninistische Philosophen (Klaus/ Buhr, 1964/69) bis zu Hegel und Feuerbach weiter - weil sich daraus "als unvermeidliche Schlussfolgerung" der Kommunismus ergibt (Marx/ Engels). Die russische Aufklärung seit Lomonossow erreichte erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts mit den „russischen revolutionären Demokraten" ihren Höhepunkt; sie bildete die Vorstufe zum "wissenschaftlichen Sozialismus" und zur "proletarischen sozialistischen Revolution".

 

Humanität = Vernunft + Liebe

 

Was passierte mit der Vernunft? Philosophisch war sie schon kurz zuvor der Humanitätsidee einverleibt worden. Humanität ist nach Herder Ziel der Geschichte und "Zweck des Menschengeschlechts"; sie besteht in der harmonischen Vereinigung von Vernunft mit Liebe, Geistes- mit Gemütskultur (1784).

 

Ein schwacher Anklang findet sich noch bei einem Pionier des Operations Research und der Systemanalyse, C. West Churchman, der sich in seiner "Challenge to Reason" (1968) um eine "Ethik von Gesamtsystemen" bemühte. Er stellte der "maskulinen Vernunft", charakterisiert durch "Präzision, Strenge und Genauigkeit", eine Vernunft entgegen, in der auch das "Vage, das Erfühlte und das Liebenswürdige" Platz hat, eine Vernunft, die auch Flüchtiges und Weiches, Ohnmacht, Freude und Schmerz aufnimmt. "Die Vernunft handelt von der Art und Weise, in der menschliche Wesen verstehen, was menschliches Leben bedeutet."

 

Die bürgerliche Vernunft: eine heroische Illusion ?

 

Hegel hatte zwar Herders („dialektischen“) Fortschrittsgedanken aufgenommen, aber die Vernunft wieder aus der Verbindung mit dem Gemüt gelöst und ein letztes Mal zum Weltprinzip stilisiert. Hernach stürzte sie ab zum blossen Vermögen. Als solches spukt sie noch heute in den Thesen über das "rationale Verhalten" des homo oeconomicus oder im Konzept der "beschränkten Rationalität" (Herbert A. Simon 1947).

 

Eine andere Art Beschränktheit machen Engels und Klaus/ Buhr namhaft: "Die Vernunft, vom klassischen bürgerlichen Denken immer als allgemeinmenschliche gesetzt, entlarvt sich nach Etablierung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung als bürgerliche Vernunft. Die mit der Vernunft theoretisch begründete bürgerliche Gesellschaft setzt sich als höchst unvernünftige Ordnung in die Welt. Und die allgemeinmenschliche Vernunft des klassischen bürgerlichen Denkens selber scheitert als eben bürgerliche Vernunft an der Mehrwertrate" (1972, 1124).

 

Immerhin war die Entfaltung des Begriffs der Vernunft eine der "heroischen Illusionen" der progressiven Bourgeoisie. Daher durfte die Vernunft als "Thema" in die Ideologie jener Klasse eingehen, "die als Antipode der Bourgeoisie von der Geschichte dazu berufen ist, durch ihre Befreiung die Befreiung der gesamten Menschheit von Ausbeutung und Unterdrückung zu bewerkstelligen: in die wissenschaftliche Weltanschauung des Proletariats" (1124-1125).

So sind die aus dem Anspruch der Vernunft resultierenden kritischen Tendenzen "als aufgehobene Momente der Philosophie der Arbeiterklasse, des dialektischen und historischen Materialismus, zu begreifen".

 

Der Mensch als sachkundiger Sozialtechniker

 

Ebenfalls aufgenommen hat die marxistisch-leninistische Doktrin die mechanistische Naturauffassung (seit Kopernikus und Kepler, Galilei und Descartes), verbunden mit dem Materialismus (von Hobbes und Gassendi bis La Mettrie, Holbach und Feuerbach).

 

Auftauchende Widersprüche zwischen Notwendigkeit und Willkür, Gesetz und Freiheit werden dialektisch gelöst: Einerseits gelten in der Gesellschaft objektive Gesetze, also solche, die "unabhängig vom Bewusstsein der Menschen, von ihren Wünschen und Zielen" (Klaus/ Buhr, 1972, 445) wirken, d. h. die reale gesellschaftliche Wirklichkeit ist "von subjektivistischer Willkür" unabhängig, anderseits kommen sie "nur über die subjektive Tätigkeit der gesellschaftlichen Individuen zustande" und können sich nur vermittels dieser Tätigkeit durchsetzen. In der sozialistischen Gesellschaftsform werden "die Gesetze ihres eignen gesellschaftlichen Tuns ... von den Menschen mit voller Sachkenntnis angewandt und damit beherrscht" (Engels im "Anti-Dühring", 1878; gemäss Klaus/ Buhr, 1972, 448).

 

Auf diese Weise schliesst sich der Kreis: Wenn die Welt wie ein Mechanismus abläuft, kann man auch wie ein Mechaniker eingreifen. Das läuft heute unter dem Namen Sozialtechnologie oder Soziotechnik. In der Neuzeit setzen diese Bestrebungen ebenfalls bald nach 1600 als Merkantilismus und Kameralismus ein. 1610 legte Sully in Frankreich einen ersten Haushaltsplan vor; das Wirken von Colbert unter Ludwig XIV. und von Cromwell - von der Navigationsakte bis zur Sonntagsheiligung - bietet anschauliche Beispiele des Interventionismus. Mitte des 18. Jahrhunderts kritisierten die "Physiokraten" eine solche staatliche Bevormundung der Wirtschaft. Ihre Parole des "laissez faire" läutete die erste Runde des ökonomischen Liberalismus ein.

 

Da aber die Kameralisten mit ihrer Vorstellung vom Staat als einer Maschine zur selben Zeit bereits einen viel grösseren Einfluss erworben hatten, gehörte fortan die "Technik" - als Verfahren oder "Kunst-Lehre" (J. H. Zedler 1744) - zur Steuerung oder Lenkung aller nur denkbaren Bereiche zum Allgemeingut der Aufklärung. Kant sprach von der "Technik der Logiker" (1781) wie von der "Technik der Natur" (1790), ein Zeitgenosse gar von "moralischer Technologie“ Auch Jean Paul und Goethe scheuten sich nicht, von "sittlicher" resp. "poetischer Technik" zu reden.

Die von Kant mit dem Wort Technik verbundene Zweckmässigkeit und Methodik schlug sich auch in der Formel "Technik der Verwaltung" (1810) nieder; Schleiermacher (1814) sah die Erziehung als "technisches Verfahren".

 

Seither ist ein vielfältiges Wechselspiel von Sozialtechnik - als planvolles Eingreifen zur Verbesserung der Effizienz - und Sozialreform - als Bekämpfung des sozialen Elends und der Krisen, welche die stürmische Industrialisierung hervorrief - zur beobachten. Für die eine Seite stehen am Anfang etwa der Graf von Saint Simon, der Genfer Simonde de Sismondi und Auguste Comte, für die andere Seite Robert Owen und Charles Fourier. Owen begründete das Genossenschaftswesen, das auch in der Schweiz zahlreiche Anhänger gewann. Ein Schüler Fouriers, Fröbel, richtete die ersten Kindergärten ein.

 

Systemdenken, Regelung, Gleichgewicht

 

Weder die Organisatoren von oben noch die Revolutionäre von unten nahmen allerdings zwei der bedeutendsten Errungenschaften der Aufklärung besonders ernst: das Systemdenken und die Idee der Regelung. Beide finden sich bei dem auch sonst ungemein frucht baren Mülhausener Johann Heinrich Lambert (1728-1777). Seine beiden Fragmente zur "Systematologie" und zur "Theorie der Systeme" wurden unter anderem 1974 in einem Band "Systemtheorie und Systemtechnik" (hrsg. von F. Händle und St. Jensen) wieder abgedruckt.

 

Die Idee der Regelung lässt sich auch bei David Hume (1742 und 1752), dem bedeutendsten englischen Aufklärer, nachweisen. Die Geistlichen J. P. Süssmilch (1741) und Thomas Robert Malthus (1798) untersuchten die Regulation der Bevölkerung. Der Chirurg und Physiokrat François Quesnay beschrieb die Regulation des Wirtschaftskreislaufs. Adam Smith (1776) nahm diese Gedanken auf. Unterdessen hatte der Berner Arzt und Dichter Albrecht von Haller (um 1760) die Selbstregulation von Atmung und Herztätigkeit beschrieben. Hundert Jahre später führte Claude Bernard den Begriff "Homöostase" und die organismische Auffassung von der "fixité du milieu interne" in die Physiologie ein.

 

Im Feld der internationalen Politik war die Idee der Erhaltung eines europäischen Gleichgewichts schon 1689 aufgetaucht. Gegen die französische Grossmachtpolitik verband Wilhelm III. von Oranien Grossbritannien und Holland in der ersten Grossen Allianz zur Sicherung der "balance of power". Für den Spanischen Erbfolgekrieg (1701-14) wurde die Allianz erweitert. Im Frieden von Utrecht (1713) wurden die Einflusssphären neu aufgeteilt. Der Ausgleich der Gegensätze erfolgte durch "Konvenienz", d. h. Übereinkunft der Kabinette. Die Unruhe freilich blieb.

 

Das innenpolitische Gleichgewicht kann durch Gewaltenteilung (Locke, 1689; Montesquieu, 1748) aufrecht erhalten werden oder durch "checks and balances", wie es die amerikanischen Federalists (1787/88) vorschlugen.

 

An technischen Regelungen waren bekannt: Sicherheitsventil (1707), Thermostat (seit 1610), Schwimmerventile (1746), aber auch die Windrosette zur Regulierung von Windmühlen (1745) und selbstregulierende Windmühlenflügel sowie der "Kornschüttler" (beschrieben in der "Encyclopédie"). Ausgereift fand sich das Prinzip im Fliehkraftregler von James Watt und in der ersten automatischen Getreidemühle von Oliver Evans in Philadelphia (1784).

 

Der Systemgedanke wurde von Johann Heinrich von Thünen (1826) weiter verfolgt. Charles Babbage, auch bekannt durch seine Rechenmaschinen, forderte in seiner "Economy of Machinery and Manufactures“ (1832) nicht nur die Nutzung von Erfindungen, sondern auch die Beachtung von Regulationsvorgängen. Der französische Physiker André Marie Ampère beschrieb 1834 die Kunst der Regierung als "cybernétique". Vor soviel Vorläufern konnte auch Karl Marx nicht die Augen verschliessen. Klaus/ Buhr berichten daher, er habe "ökonomische Regelkreise der verschiedensten Art beschrieben und ihre Funktionsweise untersucht " (1972, 928).

 

Seine Nachfolger sehen jede Regelung "als dialektischen Widerspruch“, und das Verhältnis von Störung und Regelung erweist sich "als ein spezieller Fall der Dialektik von Zufall und Notwendigkeit". Ferner kann alles zielstrebige Verhalten "lückenlos materialistisch erklärt werden". Wie geht das? Ganz einfach: "In philosophischer Sicht stellen … Regelungsprozesse eine der konkreten Formen dar, in denen sich die Selbstbewegung der Materie durch die ihr innewohnenden dialektischen Widersprüche realisiert" (Klaus/ Buhr, 1772, 930).

Da die Gleichgewichtstheorie nach dieser Auffassung "immer Raum für angenommene übernatürliche Kräfte" lässt, ist sie "mit der materialistischen Dialektik unvereinbar" (1972, 455).

 

Von Fichtes Sündenregister zur Springflut der 70er Jahre

 

Schon Fichte hielt der "Aufklärung" ein langes Sündenregister vor. Viele andere folgten, darunter auch der in Luzern lehrende Franz Geiger mit der Schrift: "Die grosse Lüge. Zur Warnung des Volkes aufgedeckt" (1833). Gegenbewegungen bildeten etwa Konservatismus (Edmund Burke, Joseph Maistre) und Restauration (Bonald, Lamenais), Mystik (St. Martin, Franz von Baader) und Romantik (Schelling, Schlegel, Novalis, Adam Müller).

 

Gar so klar und deutlich waren die Verhältnisse allerdings nicht. Auf unterschiedlichste Weise stritten sich Humanisten und Christen, Nationalisten und Atheisten, Individualisten und Kollektivisten, Historiker und Ökonomen, Juristen und Philologen, Unternehmer und Revolutionäre, Schriftsteller und Werktätige, Politiker und Forscher um die Teilung des "vernünftigen" Erbes.

Als besondere Strömungen schälten sich dabei heraus:

 

•           Utopisten und Frühsozialisten

•           Idealismus und die historischen Schulen

•           Liberalismus und Positivismus

•           Kommunisten und Anarchisten.

 

Gegenbewegungen wurden später:

 

•           Lebensphilosophie

•           Vitalismus

•           Hermeneutik

•           Phänomenologie.

 

Im Mittelfeld bewegten sich:

 

•           Voluntarismus

•           Pragmatismus

•           Psychoanalyse

•           Kulturanthropologie.

 

Die grossartigste Deutung der Aufklärung wird Hegel - in seiner "Phänomenologie des Geistes", 1807 - zugeschrieben. Gegen ihn bezog Feuerbach um 1840 Stellung; Marx und Engels zogen nach.

 

Vernunft und Widervernunft blieben bis auf den heutigen Tag Dauerbrenner. Das Interesse an der Aufklärung verlief dagegen sprunghaft: Erste Übersichten boten Hermann vom Busche (1846), Carl Erdmann (1849), Paul L. Haffner (1864) und F. A. Lange in seiner "Geschichte des Materialismus" (1866). Die beiden Bände des jungen W. E. Hartpole Lecky (engl. 1865; dt. 1868) wurden auf englisch bis 1955 [1989] immer wieder neu aufgelegt.

Erst um die Jahrhundertwende setzte eine erneute Beschäftigung mit der so vielfältigen Geistes- und Glaubensströmung ein; sie erreichte zwischen den beiden Weltkriegen einen ersten Höhepunkt. Seit 1960 schwoll der Strom der Auseinandersetzung rasch an und erhob sich in den siebziger Jahren zu einer Springflut, die bis heute nicht verlaufen ist.

 

Der Bogen spannte sich von Studien über das 17. Jahrhundert (z. B. John Edward Christopher Hill), das 18. Jahrhundert (z. B. Werner Krauss), Hegel und Marx bis zur "Ideologie" und "Illusion" (Ernst Topitsch, 1961 und 1969), "politischen Theologie" (Hans Albert, 1969), "Gegenaufklärung" (Hermann Lübbe, 1972) und "Dummheit" (Herbert Gürster, 1974).

 

Von 1963 bis 1970 gab Gerhard Szczesny vier "Jahrbücher für kritische Aufklärung" ("Club Voltaire") heraus. Von 1965 bis 1982 gab es die "Salzburger Humanismusgespräche". Mit dem Band "Plädoyer für die Vernunft" eröffnete Gerd-Klaus Kaltenbrunner 1974 die Reihe "Herderbücherei Initiative", die unter seiner unermüdlichen Regie auf über sechzig Titel [insgesamt über 100] gediehen ist. 1972 fragte Willi Oelmüller: "Was ist heute Aufklärung?" 1980 gab Martin Zöller ein Bändchen mit Aufsätzen zum Thema "Aufklärung heute" (Edition Interfrom Zürich) heraus, 1982 Volker F. W. Hasenclever einen Band von Reden zum Lessing-Preis: "Ist Vernunft nicht mehr gefragt?"

Rege Forschungsaktivitäten dokumentieren seit 1974 die Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, und kürzlich nahm sich auch die Akademie der Wissenschaften der DDR der "Philosophie der Aufklärung" an (Manfred Buhr, Wolfgang Förster, 1985-86).

 

Widerstand - gegen die sprachlichen und gedanklichen Anforderungen

 

Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs diagnostizierten zwei deutsche Emigranten "die rastlose Selbstzerstörung der Aufklärung". Grund dafür sei ihre "Furcht vor der Wahrheit", "denn Aufklärung ist totalitär wie nur irgend ein System". "Wie Prohibition seit je dem giftigeren Produkt Eingang verschaffte, arbeitet die Absperrung der theoretischen Einbildungskraft dem politischen Wahne vor."

 

Und tatsächlich ist, nach Befund von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno die "Dialektik der Aufklärung" (so auch der Titel ihrer 1944 verfassten und 1947 um die folgenden Sätze ergänzte Schrift) "objektiv in den Wahnsinn umgeschlagen“. "Der Wahnsinn ist zugleich einer der politischen Realität ... Je aberwitziger der Antagonismus, desto starrer die Blöcke ... Die von den Politikern der Lager ausposaunte Unversöhnlichkeit der Ideologien ist selber nur noch eine Ideologie der blinden Machtkonstellation." (Ob wegen solcher Aussagen die Autoren von Klaus/ Buhr als "bürgerliche Philosophen" apostrophiert werden?)

 

Was böte eine Lösung? "Widerstand": "den geltenden sprachlichen und gedanklichen Anforderungen Gefolgschaft versagen", "Besinnung auf das Destruktive des Fortschritts", "die Macht des Bestehenden" brechen. "Die ihrer selbst mächtige, zur Gewalt werdende Aufklärung selbst vermöchte die Grenzen der Aufklärung zu durchbrechen."

Mehr wird nicht angeboten. Ob es daran liegt, dass es sich bei der "Einlösung der vergangenen Hoffnung" bloss um "philosophische Fragmente" handelt - aus Furcht vor der Anstrengung des Begriffs?

 

Die Kritiker blieben seither trotz immenser Fremdwortgewalt dem Fragmentarischen treu. 1963 legte Jürgen Habermas sieben "historische Vorstudien zu einer systematischen Untersuchung" des Themas "Theorie und Praxis" vor, 1972 Klaus Holzkamp "vorbereitende Arbeiten" zur "Kritischen Psychologie".1983 schob Habermas seiner mittlerweile als "Monstrum" erschienenen "Theorie des kommunikativen Handelns" (1981) Gedanken zum Moralbewusstsein, 1984 weitere 600 Seiten "Vorstudien und Ergänzungen" nach. Und in seiner ebenfalls 600seitigen "Grundlegung der Psychologie" bekannte Holzkamp 1983, der gegenwärtige Zustand der Kritischen Psychologie sei "paradigmatisch noch nicht hinreichend entfaltet".

 

Kaum hatte sich der Sturm im Blätterwald gelegt, den Peter Sloterdijk mit seiner 950seitigen zweibändigen "Kritik der zynischen Vernunft" (1983) entfacht hatte, liess er ihr einen "epischen Versuch" von 320 Seiten ("Der Zauberbaum", 1985) folgen. Niklas Luhmann - bekannter durch seine "Soziologische Aufklärung"(1970/75/81) als durch die kleinere Trilogie "Vertrauen" (1968), "Macht" (1975) und "Liebe" (1982) - trumpfte 1984 mit einem gegen 680 Seiten umfassenden "Grundriss zu einer allgemeinen Theorie der Gesellschaft ("Soziale Systeme") auf. Demgegenüber nehmen sich '.'Das Dickicht der Lebenswelt" (1983, 186 Seiten) von Ulf Matthiesen oder Axel Honneths "Kritik der Macht"(1985, 381 Seiten) schon bescheidener aus.

 

Immerhin, die "Neue Unübersichtlichkeit", die Habermas 1984 vor den spanischen Cortes diagnostizierte, ist von den selbsternannten Aufklärern aller Schattierungen weitgehend selbstverschuldet: So natürlich ist die Sprache, die sie verwenden, und so sichtbar ist das "Telos der Verständigung", auf das sie sich berufen, weil es in die sprachliche Kommunikation eingebaut sei, nicht. Der Verdacht des "l'art pour l'art" und die Frage: "Wer hat nun eigentlich Kompetenz, weshalb und wofür?" drängt sich immer wieder auf.

Wie sagte Ptahhotep:

"Eine gute Rede ist verborgener als ein Edelstein,

und doch kann man sie finden auch bei den Mägden über den Mühlsteinen."

 

Diskurse im Elfenbeinturm?

 

Die Begründung für Jargon und Stückwerk ist einfach. "Der fragmentarische und vorläufige Charakter der Überlegungen war mir stets gegenwärtig", schrieb Habermas 1971. "Aber nur exponierte Stellungen machen diskursive Angriffe und Verteidigungen, d. h. substantielle Argumentation möglich."

 

Was ist dieser Diskurs?

 

Die in den sechziger Jahren ausgetragene Fehde zwischen dem Kritischen Rationalismus (Karl R. Popper, Hans Albert) und der Kritischen Theorie - der sog. "Positivismusstreit" - drehte sich unter anderem auch um die "vernünftige Diskussion", um den "Dialog mündiger Menschen". Habermas meinte, dieser werde durch Gewaltverhältnisse "verzerrt". Daher entwickelte er aus seiner Vision des "herrschaftsfreien Dialogs aller mit allen" (1965) diejenige von "Diskursen, die Handlungszwänge transzendieren". "Diskurse sind Veranstaltungen, in denen wir kognitive Äusserungen begründen“

 

Der Traum ist freilich voller Fallstricke. Einige grundsätzliche Bedenken sind technischer Art (oder sind es etwa moralische Fragen?):

 

1. Diskurse erfordern sehr viel Zeit. Ist es überhaupt möglich, auf diese Weise alle brennenden Probleme anzugehen und in nützlicher Frist einer Lösung zuzuführen?

 

2. Besteht überhaupt ein Interesse, die Fülle von Fragen vorurteilslos zu diskutieren? Können und wollen sich die "Betroffenen" überhaupt selber artikulieren? Wie weit rechtfertigen die "Volksvertreter" ihre Bezeichnung? Wie weit verleihen selbsternannte Sprecher "Volkes Stimme" Ausdruck?

 

3. Hat, wer sich der Diskussion fernhält, seine Rechte verwirkt? Müssen die "Verantwortlichen" die andern zu ihrem Glück zwingen? Was ist überhaupt Demokratie? Was ist das Gemeinwohl? Was Gemeinschaft?

 

4. Lassen sich nicht für jeden Sachverhalt gegensätzliche Deutungen geben? Lässt sich nicht jeder Zustand und jede Massnahme mit ebensoviel begründeten Argumenten angreifen wie verteidigen, so dass die Diskussion ins Uferlose führt?

 

5. Verstellt das Reden und Streiten nicht gerade den Weg zur Tat? Wie bewältigen wir die tausend kleinen Erfordernisse des Tages? Wer leistet, was hier und jetzt not tut?

 

6. Wer kann sagen und bestimmen, was weshalb und wie verändert werden soll? Wo ist anzusetzen, woraufhin erfolgt die Änderung, wer nimmt sie vor oder leidet darunter? Wer versucht was womit und wozu in den Griff zu bekommen? Wer entscheidet über Wert und Unwert?

 

7. Wer möchte eigentlich wen wovor bewahren?

 

Andere Bedenken lassen sich aus Habermas' Äusserungen selber zusammenstellen:

 

1. Diskurse erfordern eine "kooperative Verständigungsbereitschaft": Die andere Seite darf sich nicht "strategisch" verhalten. Aber Habermas gibt selber Strategien an, mit welchen er auf Einwände "reagieren möchte".

 

2. Diskurse haben etwas mit Aufklärung zu tun. Da aber alles hypothetisch bleibt und immer noch in den Anfängen steckt, ist die "Überlegenheit der Aufklärer über die noch Aufzuklärenden theoretisch unvermeidlich, aber zugleich fiktiv und der Selbstkorrektur bedürftig".

 

3. Die Aufklärer erwarten von den andern, dass sie Aufklärung über sich suchen, sich über ihre Lage aufklären lassen und die Deutungen "zwanglos anerkennen".

 

4. Da das Geschäft der Aufklärer Kritik ist, handelt es sich um eine "riskante Parteinahme": Kritik "begreift, dass ihr Geltungsanspruch allein in gelingenden Prozessen der Aufklärung und das heisst: im praktischen Diskurs der Betroffenen eingelöst werden kann".

 

5. Aufklärer greifen zwar an und verteidigen, müssen sich aber dennoch "an Kautelen binden und einen Spielraum für Kommunikationen nach dem Muster 'therapeutischer' Diskurse sichern".

 

Irreale Mechanismen, Institutionalisierungen und Fähigkeiten

 

Gelingt diese "eigentümlich irreale Form der Kommunikation" - wie Habermas selbst zugibt -, läuft ein ebenso eigentümlicher Mechanismus ab: In dem Masse, in dem uns die Gesellschaftstheorie über unsere Gefangenschaft "im Zusammenhang systematisch verzerrter Kommunikation" aufklärt, bricht sie diesen Zusammenhang auch auf. Das Durchschauen von Selbsttäuschungen macht frei, führt "eo ipso" zu Einstellungsänderungen.

 

Auch hiefür gibt es eine Voraussetzung: Erst wenn Diskurse institutionalisiert sind, "können sie für eine gegebene Gesellschaft ein systemrelevanter Lernmechanismus werden". Wo hat sich diese Institutionalisierung jüngst ereignet? In der kommunistischen Partei: "nach aussen, gegenüber dem Klassenfeind, strategisches Handeln und politischer Kampf; nach innen, gegenüber der Masse der Lohnarbeiter, Organisation der Aufklärung, diskursive Anleitung von Prozessen der Selbstreflexion".

 

Habermas gab seine Hoffnungen nicht auf. 1985 sprach er immer noch vom "zwanglosen Zwang der besseren Einsicht" (1985a, 356), die in der Verständigung wirksam wird, d. h. in "der intersubjektiven Beziehung kommunikativ vergesellschafteter und sich reziprok anerkennender Individuen" (361). Habermas möchte "darauf beharren, dass die kommunikative Vernunft ... in den gesellschaftlichen Lebensprozess dadurch unmittelbar verflochten ist, dass Akte der Verständigung die Rolle eines Mechanismus der Handlungskoordinierung übernehmen" (367).

 

Der Wunsch bleibt aber immer Vater des Gedankens. Das Reden bleibt "verunreinigt", und die Verständigung kann misslingen. Die Vernunft selber untersteht zahlreichen Beschränkungen, auferlegt aber auch den Interaktionsteilnehmern etwa Zurechnungsfähigkeit, Verständigungsaufwand und Orientierung an Geltungsansprüchen: "Ansprüche auf propositionale Wahrheit, normative Richtigkeit, subjektive Wahrhaftigkeit und ästhetische Stimmigkeit" müssen eingelöst werden. Jedoch: Die "Fähigkeiten zur intersubjektiven Verständigung" sind schwach, und selbst wenn eine öffentliche Meinungs- und Willensbildung möglich wäre, fehlen die "Fähigkeiten zur Selbstorganisation der Gesellschaft im ganzen".

 

Wirtschaft, Staat und Lebenswelt sind eigensinnig geworden

 

Habermas' Auseinandersetzung mit Luhmanns Systemtheorie der Gesellschaft ergibt: Marktwirtschaft und Verwaltungsstaat sind längst als zwei molochartige Funktionssysteme über den Klassenantagonismus hinausgewachsen. Während bei Luhmann die "Lebenswelt" des Normalbürgers dazwischen zerrieben wird, hält Habermas an ihr nicht nur als Ermöglichung der Systeme, sondern auch als Grundlage der Verständigung, als "Totalität von Sinn- und Verweisungszusammenhängen" fest. Sie bildet als kommunikative Alltagspraxis immer noch "einen Ort für naturwüchsige Prozesse der Selbstverständigung und Identitätsbildung".

 

Nun wäre dafür zu sorgen, dass die Lebenswelt nicht mehr weiter "reglementiert, zergliedert, kontrolliert und betreut" wird: Die kapitalistische Ökonomie wie auch der interventionistische Staat müssten gezähmt, "sozial gebändigt" werden. Die Parole "Mehr Freiheit - weniger Staat" findet hier ihre Stützung. Notwendig wäre einerseits der Aufbau von Hemmschwellen von den Systemen in Richtung Lebenswelt, anderseits aber auch der "Einbau von Sensoren im Austausch zwischen Lebenswelt und System".

 

Was heisst das? Staat und Wirtschaft müssten sich Zurückhaltung bei Eingriffen in die Lebenswelt auferlegen und die Bevormundung von Staatsbürgern wie Lohnarbeitern reduzieren. Dabei hilft, wenn sie sich "gesamtgesellschaftlichen Perspektiven" öffnen und Impulse aus der Lebenswelt, aus der Öffentlichkeit, aufnehmen. Diesem löblichen Unternehmen steht allerdings sowohl der "systemische Eigensinn und das Komplexitätswachstum" der selbständig gewordenen Funktionssysteme als auch der "normative Eigensinn rationalisierter Lebenswelten" entgegen.

 

So bedauerlich dies ist, es steckt darin auch eine wichtige Erkenntnis: Weder den Vertretern der Systeme noch denjenigen der Öffentlichkeit kann Bösartigkeit oder schlechter Wille unterschoben werden. Die mangelnde Verständigungsfähigkeit liegt in ihrem Rücken, im "Widerstreit von System- und Lebensweltimperativen": hier Kapitalverwertung und planende Verwaltung, dort das breite Spektrum der sogenannten postmateriellen Werte.

 

Europa als Urheber und Hoffnung

 

Was schlägt Habermas vor? Politiker und Unternehmer müssen Sensibilität für die Öffentlichkeit entwickeln aus der Einsicht, dass Geld und Macht "Solidarität und Sinn weder kaufen noch erzwingen" können. Radikaldemokratische Gruppierungen dagegen ermahnt er zu einer "klugen Kombination von Macht und intelligenter Selbstbeschränkung".

 

Das erinnert an mancherlei, beispielsweise an die biblische Frage "Soll ich meines Bruders Hüter sein?" (1. Mos. 4,9) oder an das klassische Griechenland, wo ja auch Diskurse zum ersten Mal institutionalisiert wurden (Habermas, 1971). Nach Aristoteles' "Politik" geht es um ein gemeinsam erstrebtes Gut, nach seiner "Ethik" um Tugend als richtige Mitte zwischen Extremen oder Unwerten.

 

Wie Habermas 1981 in einem Interview bekannte [wiedergegeben in „Die neue Unübersichtlichkeit“, 1985b, 167-208], hat zwar "etwas gegen die aristotelische Tugend des Masshaltens und des mittleren Weges", fühlt sich aber doch in manchen Fragen zur Mitte gedrängt. "Man muss es jedenfalls als eine empirische Frage betrachten, in welchen historischen Situationen stärkere Kontinuitäten mit einer untergehenden Gesellschaftsformation gewahrt werden können und sollen, und in welchen Situationen fast alles negiert werden müsste, wenn man auch nur den kleinsten Schritt zur Emanzipation tun will" (178).

 

Habermas sieht "die bewahrenswerte Substanz der genuin westlichen Traditionen und Inspirationen" (182-183) durchaus. Seine grundlegende Intuition geht ja "auf religiöse Traditionen, etwa der protestantischen oder der jüdischen Mystiker zurück, auch auf Schelling“ (202). Und sein motivbildender Gedanke "ist die Versöhnung der mit sich selber zerfallenen Moderne, die Vorstellung also, dass man ohne Preisgabe der Differenzierungen, die die Moderne sowohl im kulturellen wie im sozialen und ökonomischen Bereich möglich gemacht haben, Formen des Zusammenlebens findet, in der wirklich Autonomie und Abhängigkeit in ein befriedetes Verhältnis treten ...

Wo immer diese Vorstellungen auftauchen, ob bei Adorno, wenn er Eichendorff zitiert, beim Schelling der 'Weltalter', beim jungen Hegel, ob bei Jakob Böhme, es sind immer Vorstellungen von geglückter Interaktion. Gegenseitigkeiten und Distanz, Entfernungen und gelingende, nicht verfehlte Nähe, Verletzbarkeiten und komplementäre Behutsamkeit - all diese Bilder von Schutz, Exponiertheit und Mitleid, von Hingabe und Widerstand steigen aus einem Erfahrungshorizont des, um es mit Brecht zu sagen, freundlichen Zusammenlebens auf. Diese Freundlichkeit schliesst nicht etwa den Konflikt aus; was sie meint, sind die humanen Formen, in denen man Konflikte überleben kann" (202-203).

 

Habermas ist zuversichtlich: Europa ist der Boden, auf dem alles gewachsen ist. Erst "im Verlaufe der kapitalistischen Modernisierung" wurde das kommunikative Vernunftpotential "gleichzeitig entfaltet und entstellt" (1985a, 367).

Zwar hat Henry S. Commander in seinem "Empire of Reason" (1977) zu zeigen versucht, "how Europa imagined and America realized the Enlightenment", und tatsächlich haben Benjamin Franklin und Thomas Paine, George Washington und Thomas Jefferson, Ralph Waldo Emerson und andere Bedeutsames geleistet. Doch heute hat sich hüben und drüben "der Horizont der Zukunft ... zusammengezogen und den Zeitgeist wie die Politik gründlich verändert" (1985b, 143).

 

Die Lage ist unübersichtlich. "Unübersichtlichkeit ist indessen auch eine Funktion der Handlungsbereitschaft, die sich eine Gesellschaft zutraut. Es geht um das Vertrauen der westlichen Kultur in sich selbst" (143).

Daher ruft Habermas beschwörend aus: "Wer anders als Europa könnte aus eigenen Traditionen die Einsicht, die Energie, den Mut zur Vision schöpfen ...?" (1985a, 367).

 

 

(Dieser Text wurde am 9. Juli 1986 an die Weltwoche-Zeitschrift „Leader“ und am 30. September 1986 an die „Schweizerischen Monatshefte“ gesandt. Der erste Satz des kurzen Begleitschreibens lautete:

„Die Bemerkung von Max Frisch in diesem Frühjahr, die Aufklärung sei gescheitert, hat mich zu beiliegendem Aufsatz angeregt.“

Der Artikel erschien nicht.)

 




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