Die Philosophie der Arbeiterklasse
Zu Georg Klaus, Manfred Buhr (Hrsg.): Philosophisches Wörterbuch. Leipzig: VEB Bibliographisches Institut 1964 [12. Aufl. 1976]; 7. Aufl. (die der überarbeiteten und erweiterten 6. Aufl. von 1969 entspricht) als Lizenzausgabe unter dem Titel: Marxistisch-Leninistisches Wörterbuch der Philosophie. Reinbek: Rowohlt 1972 [erweiterte Aufl. 1976-77; erneut 1983]
mit einer Ergänzung am Schluss aus dem Anfang eines anderen Rezensionsversuchs
Was würden Sie sagen, wenn Bundespräsident Celio [im Amt 1967-73] im "Freisinnigen Wörterbuch der Philosophie" 25 mal zitiert wird und Pestalozzi unzählige Male? Wenn der Sieg des Freisinns ins Reich der Freiheit führte? Wenn es im freisinnig-demokratischen Weltsystem keine Unterordnung schwächerer unter stärkere Länder, sondern nur kameradschaftliche Zusammenarbeit und gegenseitige Hilfe gäbe? Wenn alles, was der Freisinn äussert, strenge Wissenschaft wäre? Wenn der freisinnige Humanismus der einzig echte wäre? Wenn brüderliche Solidarität, Treue und Ergebenheit gegenüber den freisinnigen Idealen sowie Verantwortungsbewusstsein für das Ganze der Gemeinschaft ebenso als hohe sittliche Werte wie Wahrheitsliebe, Freundschaft, Liebe zum Volk, zum Vaterland und zur schöpferischen nützlichen Arbeit - eine Ehrenpflicht - oder auch Redlichkeit und Lauterkeit der Gesinnung gälten?
Eine Demagogie, die Erinnerungen weckt
Ersetzen Sie Celio und Pestalozzi durch Ulbricht und Marx und das Wörtchen "freisinnig" durch "sozialistisch" oder "marxistisch-leninistisch" und Sie haben Sätze aus dem DDR-Wörterbuch der Philosophie vor sich. Die Lektüre dieser Parteiphilosophie macht hellhörig, und die sorgfältige Analyse des einhämmernden Wiederkäuens von Leerformeln entlarvt eine Demagogie, die Erinnerungen an die philosophischen Epistel weckt, die unter der Führung der "Deutschen Arbeiterpartei" in den dreissiger Jahren verfasst wurden.
Eine Fundgrube für den auf Kuriositäten und Zeitsymptome scharfen Geistesmenschen, aber auch für den politisch wachen Bürger - und das muss heute jeder sein - bietet das "Philosophische Wörterbuch" der beiden Ostdeutschen Georg Klaus und Manfred Buhr. Es hat seit 1964 in Leipzig sieben Auflagen erfahren. Diese 7. Auflage ist nun als dreibändige Lizenzausgabe beim Rowohlt Taschenbuch Verlag (Reinbek bei Hamburg) erschienen mit dem präzisierenden Titel "Marxistisch-Leninistisches Wörterbuch der Philosophie".
Eine Parteiphilosophie
Während die verbreitetsten und massgeblichsten neueren westdeutschen Pendants, nämlich Johannes Hoffmeisters "Wörterbuch der philosophischen Begriffe" (2. Aufl. 1955; der Nachfolger des "Kirchner-Michaelis" von 1886-1911) und Heinrich Schmidts "Philosophisches Wörterbuch" (18. Aufl. 1969; bearbeitet von Georgi Schischkoff), durchaus "neutrales" Gepräge tragen - dasjenige von Walter Brugger S. J. ist katholischen Zuschnitts - und in den Vorworten daher nichts von der "weltanschaulichen" Grundlage verraten (müssen), auf der sie stehen, beginnt dasjenige von Klaus/ Buhr mit den Sätzen:
Also eine Parteiphilosophie, mutmasst der erstaunte Leser, und er hat damit recht, denn nach Auffassung des Marxismus-Leninismus trägt jede Philosophie Klassencharakter und ist parteilich (Seite 839) <siehe Ergänzung am Schluss>.
Der Begriff Partei kommt dagegen bei Hoffmeister und Schmidt gar nicht vor, und auch unter dem Stichwort Philosophie findet sich kein Hinweis auf Parteilichkeit, vielmehr wird auf die ursprüngliche Bedeutung: Liebe zur Weisheit, zum Wissen, zur Wahrheit Wert gelegt. Karl Jaspers sagte:
In der DDR hingegen gilt sie als Wissenschaft, und solche entsteht nicht als spontaner Prozess, sondern wird planmässig durch die Partei der Arbeiterklasse gelenkt (1170). Und da diese Arbeiterklasse die fortschrittlichste Klasse der Geschichte bildet, ist auch der dialektische und historische Materialismus die höchste Form der philosophischen Entwicklung (839).
„Totengräber der kapitalistischen Gesellschaft“
Wenn. nun die Arbeiterklasse die welthistorische Aufgabe hat, "Totengräber der kapitalistischen Gesellschaft und Schöpfer der sozialistischen Gesellschaft zu sein" (105, 554), dann ist ihre philosophische Wissenschaft Totengräber-Philosophie. Welch weiter Weg seit Platon, für den Philosophie noch hiess: (selber) sterben lernen.
Die Blick- und Stossrichtung hat sich im Osten gewandelt: auf den bösen Andern hin, auf den Bourgeois, den Kapitalisten, den Imperialisten. So sollen diese 1250 Seiten also "die Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Philosophie und der imperialistischen Ideologie überhaupt befördern helfen" (Vorwort). Rezept hiefür: Einseitigkeit (eben "Parteilichkeit", z. B. 803) respektive Unterschlagung. Dies trotz der Ankündigung, das Wörterbuch solle "eine schnelle, zuverlässige und gediegene Orientierung über die verschiedenen Bereiche der marxistisch-leninistischen Philosophie, der Geschichte der Philosophie, der Logik sowie der allgemeinen philosophischen Terminologie ermöglichen".
Eine Philosophie ohne Geist, Genie und Gott
Zuverlässig? Nehmen wir den Buchstaben G. Da fehlen: Gedächtnis, Geduld, Gefühl, gegeben, Gegenwart, Geheimlehren, Geist, Geisteswissenschaften, geisteswissenschaftliche Psychologie, Geltung, Gemüt, Genie, geozentrisch, Gesinnung, Gewissen, Gewohnheit, Glück, Gnade, Gott, Gottesbeweise, Gravitation, Grenzbegriffe und -situationen, Grundsatz und -wissenschaft, Gruppe. Alle diese Begriffe werden in den Werken von Hoffmeister und Schmidt (die je nur etwa den halben Umfang aufweisen) erläutert.
Wollte man schnippisch sein, könnte man den Satz bilden: Die marxistisch-leninistische Philosophie ist eine kollektivistische Wissenschaft ohne Geist, Genie und Gott, die gesinnungs- und gewissenlos den höchsten Werten des Gemüts kein Gedächtnis bewahrt und weder Geduld noch Gnade, weder Gefühle noch Glück noch Grenzsituationen kennt.
Zentrale "Hauptpunkte (Strömungen, Richtungen, Disziplinen, Grundbegriffe) der Geschichte der Philosophie und der gegenwärtigen bürgerlichen Philosophie" (Vorwort) werden höchst un-gediegen ignoriert, auch wenn volle 17 Seiten Geschichte, geschichtlichem Denken und Geschichtsphilosophie gewidmet sind.
Auch werden in epischer Breite Schlagworte (und deren Komposita) wie Antikommunismus (8 Seiten), Arbeit (10 plus 2), Aufklärung (20), Dialektik (10), Erkenntnis (14), Ethik (19; plus Meta-Ethik 2 und Moral 5 Seiten), Gesellschaft (26), Humanismus (10), Jansenismus (9), Klasse (10), Krausismus (11), Kunsttheorie (10; plus Ästhetik 7 Seiten), Logik (14), Materialismus (26), Naturrecht (9 plus 2), Plan - Planung (9), Praxis (9), Qualität-Quantität (10), Sozialismus und Kommunismus (25), Wert (8), Widerspruch (8 Seiten) abgehandelt.
Abgesehen vom Jansenismus ("im 17. Jh. entstandene katholische Kirchenreformbewegung") und Krausismus ("die auf der Grundlage der von einer religiösen Weltinterpretation ausgehenden Philosophie des deutschen Kantschülers Karl Christian Friedrich Krause begründete idealistische philosophische und Reformbewegung") verwundert das Gewicht, das auf Ethik-Moral-Humanismus liegt.
„Der sozialistische Humanismus ist der konsequenteste Humanismus“
Man vermutet sogleich, dass die DDR-Philosophie den einzig wahren Humanismus verkörpern soll - und man geht damit nicht fehl. Nach einem langen historischen Abriss, der vom Alten Ägypten über die Griechen und die Renaissance zu Hegel führt, heisst es:
Wenn auf einer einzigen Seite 13 mal die Formel "sozialistischer Humanismus" vorkommt, denkt man sogleich an Agitprop oder Deklamatorik, Phraseologie und Rhetorik, Begriffe, die bezeichnenderweise in diesem Wörterbuch nicht auftauchen. (Rhetorik findet sich bei Hoffmeister und Schmidt, Agitprop im westdeutschen Rechtschreibe-Duden mit Hinweis auf Ostdeutschland.)
Nun, der Kommunismus als "realer Humanismus" (Marx)
Wenn man an den *Eisernen Vorhang" und die 45'000 Soldaten der Nationalen Volksarmee denkt, die mit Schiessbefehl am schon stellenweise vollautomatisierten "antifaschistischen Schutzwall" (89) "zwischen den (beiden deutschen) Völkern" Wache stehen, muten solche Sätze zynisch an. Verursacht die Spaltung denn kein Leid, beruht sie tatsächlich "auf dem gemeinschaftlichen Interesse und dem immer bewussteren brüderlichen Zusammenwirken aller Menschen"? Sind die "unüberbrückbaren Gegensätze ... zwischen der gesellschaftlichen Wirklichkeit und den humanistischen Idealen der Menschen“ (489) damit verschwunden, ist "mit und durch die Oktoberrevolution der Humanismus in Existenz getreten - das ist mehr als seine Verwirklichung", nämlich "Götterdämmerung“ (490)?
Wer wird zitiert?
Man wird der Sache nicht froh. Auch nicht, wenn man gewahrt, dass fast jedes zweite Schlagwort mit der Zitierung von "Marx/ Engels" aufhört, von Männern also, die 1883 resp. 1894 gestorben sind. Die Zitate von Marx, Engels und Lenin († 1924) sind übrigens so zahlreich, dass sie im Register gar nicht angeführt sind. Spitzenreiter sind dazu: Aristoteles, Descartes, Feuerbach, Hegel, Hobbes, Hume, Kant, Leibniz, Locke, Newton, Platon und Spinoza. (Die meisten von ihnen werden zahlreiche der z. B. unter „G“ vernachlässigten Begriffe ausgiebig verwendet haben.) Auch ein Mann namens Walter Ulbricht wird an 25 Stellen erwähnt, das ist häufiger als Friedrich Schiller, Schopenhauer, Nietzsche, Jaspers, Heidegger, Sartre oder Einstein. Durch Abwesenheit glänzen dafür Pestalozzi wie Adam Schaff oder Stalin, Mussolini, Hitler, Chruschtschow, Breschnew, Suslow, Castro, Mao und Tito, aber auch Bakunin - letzterer trotz ausführlicher Erwähnung seiner "unrühmlichsten Rolle unter den Vertretern des Anarchismus im 19. Jahrhundert" (70f).
Wenn in einem "westlichen" Wörterbuch Willy Brandt, Pompidou oder der schweizerische Bundespräsident zitiert würden, erweckte das wohl Bestürzung.
Das Wörterbuch ist politisch
Das vorliegende "Wörterbuch der Philosophie" ist eben politisch. Steht doch da etwa:
Oder:
Faschismus?
Wen es immer noch wundert, dass die "neue" Ostpolitik Westdeutschlands auf anscheinend unverständliche Schwierigkeiten stösst, liest unter "Antikommunismus" folgende Sätze:
Sozialismus und Kommunismus: Friede, Ehre und Entfaltung
Eine harte Philosophen-Sprache fürwahr. Das Gegenbild dieser Schwarzweiss-Malerei ist der Sozialismus und Kommunismus, deren "grundlegender Wesenszug" der Frieden ist.
Ein Werktätigen-Paradies also - abgesichert durch elektrisch geladene Drähte und Todesstreifen. Dabei soll doch der Sieg "im friedlichen ökonomischen Wettkampf mit den fortgeschrittensten kapitalistischen Ländern" errungen und der Friede "auf der Grundlage des Leninschen Prinzips der friedlichen Koexistenz von Ländern mit unterschiedlichen sozialen Systemen" (1002) gefestigt werden.
Verwischte Diskrepanzen - Lücken und Fehler
So widersprüchlich und voller Wiederholungen geht es über 25 engbedruckte Seiten. Die Tendenz ist klar: Überredung und Verwischung der Diskrepanzen zwischen Ideal und Wirklichkeit. Das Wesentliche wird nicht herausgearbeitet, sondern ertrinkt in einer apologetischen Sturzflut von Zitaten aus Parteiprogrammen oder in stereotyper Nachbetung von Leerformeln.
Sogar beim 'Ding an sich" wird behauptet, diese Lehre Kants habe "ihre sozial-ökonomischen und gesellschaftlich-historischen Wurzeln", beruhe sie doch auf der "warenwirtschaftlichen Durchdringung der ganzen Gesellschaft im Kapitalismus (Marx/ Engels)" (254).
Es gibt auch eine „dialektische" Logik nach Lenin, freilich:
ähnliches gilt auch für die Kunsttheorie (640). Es ist ausserordentlich selten, dass einer von den 60 Mitarbeitern dieses Opus passen muss.
Tröstlich, dass diese "Philosophie der Arbeiterklasse" (839) nicht auf alle Fragen eine Antwort bereit und z. B. gerade die Kybernetik ein zentrales Dogma umgestützt hat, nämlich die Klassifizierung der Wissenschaften auf Grund der "Bewegungsformen der Materie" (643). Sogar einige Fehler haben sich eingeschlichen, wovon die schönsten: Der 1923 geborene William Henry Scott habe 1920 die Lehre von der Technokratie begründet (1242; 1077), und der Schweizer Künstler Jean Tingeley sei Amerikaner (638). Nun, daran wird der "Sieg des Sozialismus" nicht scheitern.
Parallelen zum Nationalsozialismus?
Was aber den Ernst der Lage aufdeckt, sei zum Abschluss nicht verschwiegen. Infolge eines Versehens geriet mir auf der Universitätsbibliothek ein Sammelband "Schriften der Deutschen Hochschule für Politik" aus den Jahren 1934-37 in. die Hände.
Genau wie in der heutigen DDR (vgl. 464) war damals das erste "Grundrecht" dasjenige auf Arbeit.
Für jemanden, der diese Zeit nicht erlebt hat, sind solche Parallelen zur DDR-Philosophie erschütternd. Der Spruch "Arbeit macht frei" steht ja auch am Eingang eines sehr unrühmlichen Ortes deutscher Geschichte.
Genauso Unrühmliches entlarvt sich, wenn man die weiteren Berliner Hochschulpublikationen - oder auch andere - neben das DDR-Wörterbuch hält.
Hat also der gemeinsame Kampf aller Volksschichten, die "qualitativ neue geschichtliche Mission der Arbeiterklasse" (821) "unter Führung der marxistisch-leninistischen Partei" - wovon die KPdSU die "am meisten gestählte" (824) - was seit 1923 geschah, nur rhetorisch abgelöst? Wie gesichert "wissenschaftlich" sind diese beiden "Weltanschauungen"?
Die Physik und der dialektische Materialismus
Gobineau und Marx waren präzis Zeitgenossen. Bei solcher Wissenschaftlichkeit ist auch die Behauptung naheliegend, die relativistische Quantenmechanik bestehe "in der Überwindung der metaphysischen mechanischen Denkweise durch die dialektisch-materialistische" (903; ähnlich 604) oder es sei das grosse Verdienst Lenins, dass er bereits 1908 "die philosophische Bedeutung der Entdeckung der Elementarteilchen erkannte" , ja die These Lenins sei heute vollauf bestätigt worden, "dass die Physik im Begriff sei, den dialektischen Materialismus zu gebären" (271). Umgekehrt kann auch "eine wissenschaftliche Kosmologie nur auf dem Boden des dialektischen Materialismus mit seiner Lehre von der relativen und absoluten Wahrheit aufgebaut werden" (610). Kurz:
oder:
Sachlich unzulänglich – politisch zuverlässig
Ist der Inhalt dieser sehr unterschiedlich langen und informativen 1800 Beiträge sach- wie begriffsgeschichtlich völlig unzulänglich, so ist er doch politisch "zuverlässig" (Der Antikommunismus ist "ein Verbrechen an der Menschheit und Menschlichkeit schlechthin", 87).
Noch so geschwätzige Demagogie vermag jedoch die Tatsache nicht zu vertuschen: Nicht jeder der die Namen Platon und Kant - nach "völkischer Philosophie" "arische Denker" - in den Mund nimmt, ist damit schon ein Philosoph.
am 8. November 1972 an den „Tages-Anzeiger“ gesandt; bereits sechs Tage später zurückerhalten mit einem erbosten langen Begleitbrief eines Kulturredaktors, in dem untern anderem zu lesen war: „Für mein Gefühl verrät Ihre Arbeit ein Vorurteil gegenüber der Lehre des Marxismus-Leninismus und gegenüber der DDR, vor allem in jenen Passagen, in denen Sie Vergleiche zu Nazideutschland anstellen. Dieses Vorurteil teile ich und meine Kollegen nicht, und diese Art von "vergiftetem" Antikommunismus möchten wir im Kulturteil lieber nicht verbreiten.… Wir behandeln Kommunismus, Marxismus, auch in der heutigen politischen, kulturpolitischen Ausformung, soweit das alles in unseren Zuständigkeitsbereich fällt, durchaus nicht unkritisch, aber sachlich, verständnisvoll und vorurteilsfrei. … Ein philosophisches Wörterbuch der DDR würden wir erstens nicht auf zehn Seiten besprechen. Zweitens würden wir es in den politischen, ideologischen, aktuellen Kontext hineinstellen ... Drittens würden wir gewiss auch auf die positiven Seiten hinweisen (Gründlichkeit? Kompetenz im innermarxistischen Bereich? Wie steht es damit?).“
Einige Zeilen aus der zweiseitigen Replik des Autors: "Von einem "philosophischen Wörterbuch" erwarte ich Information und nicht Belehrung oder Bekehrung. Und soll diese über "östliche" Lehren berichten, dürften doch auch Namen wie: Bakunin, Bechterew, Boskovic, Dostojewskij, Dvornikovic, Hoene-Wronski, Ingarden, Kirejewskij, Koigen, Losskij, Masaryk, Schestow, Solowjew, Tolstoj, Tschaadajew, Tschitscherin - alle im "BRD"-Wörterbuch von H. Schmidt in biographischen Artikeln - nicht fehlen, ebensowenig L .Martew, Rosa Luxemburg, Trotzki, Schdanow oder M. Dijlas, Adam Schaff, K. Kosik, A. Sacharow oder I. Fetscher, H. H. Holz, E. Mandel, K. Farner, W. Lefèvre. usw. … Ich weiss nicht, ob die 60 Autoren glauben, was sie schreiben; wenn sie das müssen, habe ich Verständnis dafür, auch dafür, dass mit diesem Wörterbuch gearbeitet werden muss, dient es doch kaum nur der literarischen Erbauung. Doch alles Verständnis macht ein mieses Buch, und als jedermann zugängliches Buch ist es primär zu nehmen, nicht besser. Auch bei uns gibt es schlechte Bücher im Übermass, doch nicht alle erheben diesen (wohl als Nachfolge von Kuusinens Lehrbuch) offiziösen Anspruch. … Wie mir scheint, haben Sie auf geradezu klassische Weises meine Buch-Kritik (bezüglich Gründlichkeit, Kompetenz im Gesamtmarxismus, Stil) mit Ideologiekritik verwechselt.“
Ergänzung (aus einem anderen Rezensionsversuch)
Nur eine Dreiviertelseite für das „Sein“
Jedes Kind weiss, dass der zentralste Begriff der Philosophie seit Jahrtausenden das "Sein" ist. Wenn also in einem Wörterbuch von Ausmassen der Heiligen Schrift den drei Schlagworten "Gesellschaft", "Materialismus" und "Sozialismus und Kommunismus" 77 Seiten eingeräumt sind, dem Begriff "Sein" jedoch hundertmal weniger, nämlich eine Dreiviertelseite, dann keimt Verdacht auf. Wenn die geschichtliche Betrachtung des "Seins" erst noch bei Feuerbach endet, der bereits vor hundert Jahren das Zeitliche gesegnet hat, dann argwöhnt man, den Reprint eines längst verschollenen Werkes aus der Mottenkiste in Händen zu haben. Weit gefehlt. Wir haben ein Buch vor uns, das 1964 erstmals erschienen ist, seither in Leipzig sieben Auflagen erlebt hat und dessen photomechanischer Nachdruck in der dreibändigen westdeutschen Lizenzausgabe des Rowohlt Taschenbuch Verlags in vier Monaten des Frühjahrs 1972 in 18 000 Exemplaren den Weg zum geneigten Leser fand.
Unzuverlässig auch bei naturwissenschaftlichen Schlagworten
Unzuverlässig ist das Werk auch, wenn das "Wesen" bei Lenin, manch anderes (z. B. auch "Naturwissenschaft") bei Marx/ Engels endet. Auch naturwissenschaftliche "Schlagworte" sind ähnlich einseitigen Inhalts, als ob es nicht westliche Forschungen in Fülle zum Thema "Kosmologie", "Atom", usw. nach 1930 gäbe.
Partei-Doktrin statt Philosophie
Man könnte dieses Buch in Kurzform "Bibel des Marxismus" nennen, obwohl die Originalausgabe schlicht "Philosophisches Wörterbuch" heisst. Herausgeber sind der Verfasser bekannter Bücher über Logik, Erkenntnistheorie und Kybernetik Georg Klaus (Professor in Ostberlin) und. sein Kollege, der Fichte-Spezialist und Revolutionstheoretiker, Manfred Buhr.
Damit keine falschen Vorstellungen aufkommen können, trägt die westdeutsche Ausgabe den präzisierenden Titel "Marxistisch-Leninistisches Wörterbuch der Philosophie". Das ist zumindest ehrlicher. Denn was dem DDR-Bürger als Philosophie vorgekaut wird, ist schlicht Partei-Doktrin.
Keine Übersicht über die Vielfalt des Marxismus-Leninismus
Freilich gibt dieses Werk trotz seines Riesenumfangs keineswegs eine Übersicht über die Vielfalt all dessen, was sich (zu Recht oder Unrecht) als sozialistisch, kommunistisch oder marxistisch-leninistisch weltweit bezeichnet oder abspielt. Es vertritt mit offiziösem Anspruch einzig, was in der DDR und UdSSR sich so nennen darf.
"Anlage, Aufbau und Darstellungsweise des Wörterbuchs ist bewusst gegen jede Erscheinungsform des überkommenen wie des gegenwärtigen Revisionismus gerichtet. Dergestalt wird in ihm gewollt jede Anschauung verworfen, die auf einen 'Pluralismus' des Marxismus, auf eine 'Konvergenz' mit der bürgerlichen Ideologie oder auf die Unabhängigkeit der marxistisch-leninistischen Philosophie vom konkreten Prozess der Gestaltung der sozialistischen und kommunistischen Gesellschaft unter Führung der Partei der Arbeiterklasse abzielt.“
So heisst es im Vorwort. Man erfährt also nichts über die Strömungen in Lateinamerika (Castro, Frei, Allende), in China (Mao), in Frankreich und Italien ((Blum, Thorez, Duclos, Garaudy und Althusser; Togliatti und Berlinguer), geschweige denn in Jugoslawien (Tito, M. Dijlas, M. Mihailov und die Philosophen um die Zeitschrift "Praxis", z. B. Petrovic und Supek), Polen (Adam Schaff) und der Tschechoslowakei (Masaryk, Karel Kosik, Dubcek und Ota Sik).
Die genannten Namen sowie diejenigen von Amalrik und Sacharow, von Fritz Sternberg und Klaus Mehnert, Ernest Mandel, Iring Fetscher und Franz Marek oder der Schweizer Konrad Farner, Arnold Künzli und Ernst Kux sowie des emigrierten Ungarn Laszlo Revesz fehlen.
Westdeutsche Wörterbücher achten die kleinen Länder und die Frauen
... Selbstverständlich haben auch BRD-Wörterbücher ihre Fehler und Schwächen, doch werden etwa in dem von Heinrich Schmidt begründeten „Philosophischen Wörterbuch“ in Kröners Taschenausgabe die kleinen Länder wie die Schweiz (J. J. Bachofen, Hans Urs von Balthasar, Heinrich Barth, Pestalozzi, Portmann und Zwingli), Dänemark (Höffding), Schweden (Boström, Liljequist, Nyman und Swedenborg), und Norwegen (Tresdow) oder die Frauen (Hildegard von Bingen, Mechthild von Magdeburg, Edith Stein und Simone Weil) geachtet.
Dr. phil. Roland Müller, Switzerland / Copyright © by Mueller Science 2001-2016 / All rights reserved
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