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Eine Betrachtung zum Thema: „banal“ vs. „läppisch“

30.1.1973

 

 

"Wenn ich ins Theater gehe, habe ich immer den

Eindruck, mich aus Versehen zu den Nachbarn im

untern Stock verirrt zu haben und einer Diskussion

beizuwohnen, die mich nichts angeht und die mich

im übrigen auch nicht interessiert! ... während ich

von der Kunst verlange, dass sie mich aus der Welt

der Menschen in eine andere Welt entführt.“

 

Claude Lévi-Strauss, 1959

 

 

 

Seltsam: zu „banal“ gibt es ein Substantiv, zu „läppisch“ nicht. Wenigstens laut Rechtschreibe-Duden (1968), wo ersteres Wort mit "alltäglich, fade, flach" erläutert wird; im grossen Duden-Lexikon (1964) heisst es: "flach, abgedroschen, gemeinplatzartig". Zu läppisch ist beiden Büchern nichts eingefallen. Banal gibt es auch im Englischen und Französischen. Banalité wird z. B. mit Binsenweisheit und Abgedroschenheit übersetzt. Alle diese Bezeichnungen bedeuten recht Unterschiedliches. Niemand wird vom banalen Land oder von banaler Suppe sprechen, niemand aber auch von einem gemeinplatzartigen Ereignis, von einer abgedroschenen Anmerkung.

Die Sprache weiss eben fein zu nuancieren. Wäre dieser Satz eine Binsenweisheit? So etwa wie: "Mit Worten lässt sich trefflich streiten"?

 

Kommen wir also zur Sache. Wenige begreifen, wie banal das Leben ist. Dass es alltäglich ist, schon eher, spielt es sich doch alle Tage bis zum Ende eines jeden einzelnen tatsächlich ab. Aber dass es banal sei, bewahre, das wird niemand eingestehen. Entweder nimmt sich jeder so enorm wichtig, dass alles, was er tut und was ihm passiert, geradezu das Format weltgeschichtlicher Ereignisse hat, oder er lädt es mit soviel Bedeutungstiefe auf, dass alles geradezu einen verklärten Schimmer erhält. Sei das nun das Ausfüllen eines Formulars, das Diktieren oder Abtippen eines Briefes, das Verkaufen eines Brots oder Hemdes. Gestehen wir es doch ein: unser Leben verläuft banal.

 

Es gibt einfach ausserordentlich wenig Spektakuläres in unserem je eigenen Leben. Woraus bestehen denn Ferien am sonnigen Strand, eine Fotosafari, ein Skiwochenende. Aus Erlebnissen, die tausend andere auch mitmachen. Und die kleinen Störungen, unvorhergesehenen Ärgernisse oder die Freuden vom gut schmeckenden Essen bis zum stiebenden Schnee oder Sonnenuntergang? Das sind "Sachen", die öfters und vielen andern auch passieren, genauso wie Zänkereien oder der Besuch mittelmässiger Ausstellungen oder Theateraufführungen. Das Erlebnis des "grossen Mittags" (Nietzsche) und von "Sternstunden der Menschheit" (Zweig) sind solche Ausnahmeerscheinungen, dass sie nicht jedem und vor allem nicht alle paar Tage geschehen. Es geschieht nicht oft, dass die Welt den Atem anhält.

 

Dennoch hat fast jeder ein starkes Bedürfnis, der Banalität des Lebens zu entfliehen. Dies, weil ihm in Massenmedien fast täglich Spektakuläres, angeblich Nicht-alltägliches geboten wird. Woraus besteht es: aus Staatsempfängen mit Händedrücken und Konferenzen, aus Unglücksfällen und Verbrechen. Solches passiert jedoch fast täglich und entpuppt sich in 99 von 100 Fällen als - banal. Ein Eifersuchtsmord oder eine Entführung erfolgt meist aus den niedrigsten Motiven - Neid, Rache oder Geld, wir können auch an Herostrat denken; ein Flugzeugabsturz oder Autobahnunfall hat für die Beteiligten, wenn nicht den Tod so doch häufig Iebenslanges Siechtum im Rollstuhl zur Folge. Die Resultate von Politikertreffen und Tagungen bemessen sich umgekehrt proportional zum Aufwand; und schliesslich verblasst sogar Sportler- und Gelehrtenruhm.

Wer kennt noch die Olympiasieger von vor 12 Jahren, wer die Entdecker der so ungeheuer vielen technischen und pharmazeutischen Errungenschaften, die unser (all-)tägliches Leben so sehr bestimmen - erleichtern, aber auch bedrohen? Wer nennt die Namen einst erfolgreicher Trivialautoren, von Schauspielern des letzten Jahrhundert, von einflussreichen Politikern auch wie von selbstlosen Helfern.

 

Das Arsenal "grosser" Namen ist doch ein kleines Häufchen, wenn man bedenkt, dass bisher etwa 50 bis 100 Milliarden Menschen auf unserer Erde gelebt haben. Gewiss, man hat in der Schule von Cheops, Echnaton und Nofretete, von Tutenchamun, Hammurabi und Nebukadnezar, von Abraham und Isaak, Esau und Jakob, Moses, David und Bathseba, von Buddha, Konfuzius und Laotse, von Krösus, Perikles, Sokrates und  Xanthippe, von Kyros, Xerxes, Alexander, Caesar und Kleopatra, usw. gehört. Wissen wir noch, was sie taten? Woraus ihr ganzes Leben bestand?

 

In welchen Disziplinen war Jesse Owens Weltrekordler, wofür und wann erhielt José Echegaray y Eizaguirre den Nobelpreis? Wer erhielt ihn nicht, und hätte es doch verdient gehabt? Wissen Sie, welches die grösste Naturkatastrophe der letzten zehn Jahre war, wie der Regent von 125 Millionen Indonesier heisst, Vorsitzender der UNESCO ist, wer die erste Handharmonika baute, den "Armen Heinrich" komponierte, Schloss Sanssouci baute? Wie hiessen Erasmus von Rotterdam oder Jack London mit bürgerlichem Namen, wer und was waren Pertinax, ,Lando und Joseph Madersperger?

 

Genug. Was verstehen wir und alle Bürger denn unter nicht-banal? Ruhm fällt also aus. Es sei denn, man bescheide sich mit Ansehen im kleinen Kreis, was immerhin schon etwas ist, jedoch besser auf charakterlichen Fähigkeiten denn auf exzentrischem, erfinderischem oder leistungsbetontem Gehabe beruhen sollte.

Geld macht auch nicht glücklich resp. unalltäglich, denken Sie nur an Flick oder Getty. Aber Onassis und Hughes machen doch ständig Eskapaden, könnte man antworten. Was sind das aber für Abenteuer: Diamanten oder Kleider kaufen, vornehm essen, sonnenbaden oder in einer keimfrei isolierten Hotelsuite Geschäfte tätigen? Vielleicht blasen die meisten Geldmenschen sogar Trübsal. Von Photographen und Bittstellern aller Art verfolgt, von Börsenkursen gepeinigt, von der Konkurrenz bedrängt zu werden, ist vielleicht auch nicht so erstrebenswert.

 

Das Wort Abenteuer fiel. Solche möchte man erleben. Aber wo und wie? Von Wochenende und Ferien sprach ich schon. Mit Vollgas über die - oft verstopften - Strassen brausen, lässig an der Bartheke lehnen, unterm Zeltdach das Ende des Regens abwarten, Seeigel vom Felsen klauben und Filme durch die Kamera spulen - ob das im echten Sinn abenteuerlich ist? Meist ist man doch enttäuscht. Man hat zwar schon viel gesehen, gehört, eben "erlebt", doch nicht als einziger. Ein Beinahe-Unfall ist noch kein Abenteuer, auch wenn das Herz noch lange klopft.

Und was es mit dem "Dabeigewesensein" auf sich hat, zeigte einst der Film "Reporter des Satans" (von Billy Wilder mit Kirk Douglas, 1951). Da wurde um die Rettung eines Verschütteten ein "grosser Karneval" aufgezogen, zu dem Tausende von Schaulustigen strömten. Was taten sie? Sie assen Würstchen, fuhren Riesenrad, pferchten sich in Schaubuden und schossen Wachsröschen vom Stengel. Das ist alles, nur nicht spektakulär. Dass der Verschüttete am Ende der vom Sensationsreporter hinausgezögerten Bergungsaktion tot war, ist naheliegend.

 

Sensation! Das Leben eines einzelnen ist nun einmal nicht sensationell. Autorennfahrer, Arzt oder Berichterstatter, Agent, Bergführer, Reisebegleiter, Dompteur oder Fensterputzer, das sind Berufe wie alle andern auch. Kein Jota von Abenteuer, sondern vielmehr harte Arbeit, Exaktheit, Pflichten - und Misserfolge - sind damit verbunden. Hostessen und Mannequins, Polizisten und Moderatoren, Sängerinnen und Tiefenpsychologen, Direktoren und Regierungsräte, sie alle haben ihren ganz unspektakulären Alltag zu bewältigen.

 

Das zuletzt gebrauchte Wort liegt mir am Herzen. Auch Bewältigung ist etwas Banales. Es gibt keine heroische Bewältigung, keine weltgeschichtliche Bewältigung. Und wer die Meinung vertritt, es sei eine sensationellere Bewältigung des Dritten Reiches möglich, als sie Ernst Wiechert leistete, dem ist nicht zu helfen. Wiechert wird meist als weich und weinerlich, als gebeugt, müde und leicht langweilig hingestellt. Es "passiert" ja so wenig in seinen Romanen und Erzählungen; sie zeigten ein einfaches Dasein, das mystisch-religiös und gefühlvoll verklärt werde, weiss das Grosse Duden-Lexikon zu berichten. In der "Missa sine nomine“ und im "Totenwald" wird aber bewältigt, und das ist etwas, was man von den meisten, die sich darüber erhaben fühlen, nicht behaupten kann. Da preist man nachträglich Prof. Kurt Huber und die Geschwister Scholl. Die hätten Mut gehabt. Mut hatte Wiechert aber bereits am 16. April 1935 mit seiner Ansprache an die Münchner Studenten bewiesen. Wie viele von den übrigen 70 Millionen Einwohnern haben es ihm nachgetan? War Widerstand banal, Anpassung aber nicht-fade, nicht-gemeinplatzartig? Umgekehrt: Wie "banal" arbeiteten die Widerstandsbewegungen? Vorwiegend doch mit Flugblättern und Kettenbriefen, getarnten Schriften sowie Predigten, Hirtenbriefen und deren Abschriften oder Vervielfältigungen, nicht zuletzt auch mit Mundpropaganda. Also nichts von gediegener Erbauungsliteratur in Goldschnitt und Saffianleder, von Hi-fi und Stereo, von Farbdrucken und -filmen - obwohl auch dies heute kaum jemand als spektakulär betrachtet.

 

Was ist denn spektakulär? Das Leben Heinrichs VIII. oder von Blaubart und Landru, das Ende von Hanussen oder der "Ritualmord zu Breslau", welch letzterer den "Stürmer" noch acht Jahre nach der, übrigens nie aufgeklärten, Tat beschäftigte. Nun, das anscheinend unbanale Leben der Soraya am persischen Königshof bewegt Millionen auch seit 20 Jahren. Und wie genau wird der Lebensweg jedes auch nur einigermassen blaublütigen Lebens verfolgt. Dabei sind Schule und erste Liebe, Verlobungen, Hochzeiten und Scheidungen, Bankette und Bälle doch recht alltägliche Ereignisse. Aber der "Adel" der Beteiligten umgibt sie mit bestaunenswerter Glorie.

 

Auch Bewältigung kann nur un-spektakulär erfolgen - wenn überhaupt. Bezeichnenderweise sind Soraya, Sophia Loren und Gracia Patricia im Grossen Duden-Lexikon angeführt, nicht aber Joseph Wulf, der sich mit 18 dokumentarischen Büchern über das Dritte Reich unschätzbare Verdienste erworben hat. Von manchen wird er aber gar nicht geschätzt.

 

Wir schliessen den Kreis. Wer meint, bei einem Unfall oder einem Sieg im Sport dabeigewesen zu sein, sei nicht banal, Wiecherts, Bölls und Hochhuths Werke dagegen banal oder unzureichend, der vertritt eine läppische oder wie das Wort gern erläutert wird, kindische Einstellung.

Der Mensch ist nun mal weder ein geistiger noch seelischer Riese; will er mehr sein und haben als ihm realpolitisch oder eben alltäglich möglich ist, ergeht es ihm wie dem Frosch in der Fabel von La Fontaine: er platzt. Genaugenommen zerspringen natürlich nur seine Seele und sein Geist, und darum wird die Banalität der anderen angebetet, wenn sie in den Massenmedien breitgewalzt, in Romanheftchen wortreich beschworen wird. Darum findet man Steinigungen, Geschlechtsakte und andere Brutalitäten und Perversitäten auf der Bühne und im Film so schrecklich aufregend, darum begeistert man sich an Happenings und Demonstrationen, an Protestversammlungen, endlosen Diskussionen, Alternativplänen und Proklamationen.

 

"Kultur" aber, in all ihren edelsten Formen - wozu auch die Bewältigung der Vergangenheit, des Alltags in Familie, Betrieb und Freundeskreis gehört - ist eine Sache der Stille. Wiechert, Böll und Hochhuth gelten als Verfechter eines schlichten Stils. Auf den Stil kommt es an. Banal? Binsenweisheit?

Wer den Stil nicht sieht und erstrebt, der jagt Läppischem nach. Das wäre noch alltäglicher als banal.

 


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