Home Genese und Hierarchie der sozialen Ordnungsgefüge nach Theodor Geiger

 

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Gesamter Mechanismus der geselligen Ordnung (Gebarens-Koordination)

 

Siehe auch:                unter Bilder: Bilder von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft

 

 

Inhalt

I. Allgemeines

II. Die Genese der sozialen Ordnungsgefüge

1. Gewohnheit und Brauch

2. Sitte

3. Die Ordnungssicherheit

4. Von der Sitte über die Sittenregel zur Satzung, d. h. zum Recht

5, Das Recht

6. Recht und Moral

7. Sind die vorrechtlichen Ordnungsgefüge triebhaft?

III. „Recht ist die Bedingung der Freiheit“

IV. Zusammenfassung

Anmerkungen

 

 

I. Allgemeines

 

Theodor Geiger (1891-1952) veröffentlichte 1947 in Dänemark die "Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts". Die Neuauflage erschien 1964 in der Reihe "Soziologische Texte" (Band 20) im Luchterhand-Verlag (Neuwied).

Es ist eine eindeutig soziologische - also weder juristische noch psychologische - Untersuchung im Rahmen einer Spezialdisziplin, die sich mit der Interdependenz (Verbindung über Wechselwirkung bis Diskrepanz) von Rechtsordnung (Dogmatik) und sozialer Wirklichkeit, zwischen Rechtsnormen (positivem Recht) und Lebenswirklichkeit beschäftigt.

 

Für Geiger geht es in der Rechtssoziologie um die "Ordnung menschlichen Gruppenlebens überhaupt und deren Mechanismus" (40), also um die "soziale Ordnungswirklichkeit in Ihrer Gänze“ (ähnlich 57-58). Diese besteht nun aber aus rechtlichen und sozialen Normen. Letztere sind die Regeln, die neben, respektive ausserhalb des Rechts wirken und genetisch wie historisch (aber nicht unbedingt) den Rechtsregeln vorausgehen. Es sind, wie schon Durkheim und noch vorher Comte feststellte, soziale Regeln, Prinzipien und Mechanismen, die im gesellschaftlichen Leben Ordnungsfunktionen haben, mit Gruppen-Einverständnis bestimmend sind.

 

Diese ausserrechtlichen, "anderen" geselligen oder gesellschaftlichen Ordnungsgefüge interessieren uns vor allem. Ihre Entstehung ist einfach: Aus regelhaften, das heisst wiederkehrenden sozialen Prozessen können Regelmässigkeiten entstehen, die Verbindlichkeitscharakter erhalten, damit eingehalten und durch soziale Kontrolle überwacht werden.

Also: Verhaltensmuster werden zu sozialen Normen, wenn die Gruppenmitglieder - nicht eine Institution mit einem Machtapparat - auf Abweichungen reagieren (Sanktion). Daraus ergibt sich eine Hierarchie der Ordnungsgefüge. Zuoberst steht das Recht, das nur ein Sonderfall sozialer Ordnung (= Wirklichkeitszusammenhänge) Ist.

 

Beginnen wir beim Grundsätzlichen: Der Mensch ist kein solitäres, sondern ein geselliges Wesen, das mit andern seiner Gattung ein kollektives Dasein führt. "Gesellschaft beruht also auf einer vitalen Interrelation [vgl. 342] zwischen Menschen .... Die Menschen leben in gegenseitiger Anlehnung aneinander, in sozialer Interdependenz" 47-48; vgl. 344).

 

Soziale Grundtatsache ist die Interdependenz: "Menschen müssen kraft ihrer biologischen So-Beschaffenheit zusammenleben" (102). Es ist "der Begriff der Gesellschaft ... dem des Menschen inhärent" (104).

Deshalb begreift auch etwa L. v. Wiese das "Soziale" als "zwischenmenschliches Geschehen", und D. Claessens (1962, 155) wiederholt, "dass ein menschliches Wesen sich nur in der Sozietät entfalten kann".

 

Zu beachten ist: Irgendeine Ordnung ist nicht notwendige Voraussetzung für den Bestand einer Gruppe (als Gesellschafts-Integrat), sondern setzt ja gerade geselliges Leben voraus, das aber wiederum zu seinem Bestand einer Ordnung bedarf. Kurz: Geselligkeit und Ordnung bedingen einander.

 

Soziale Ordnung Ist nur ein Aspekt der (ordnung-tragenden) Gruppe und "beruht darauf, dass in einem gedachten Integrat Σ zwischen gewissen typischen Situationen s und entsprechenden typischen Gebarensweisen g ein festes Verhältnis besteht ... Jede gesellige Ordnung kann als ein Gefüge von Korrelationen nach dem Schema s → g (auf s folgt g oder ğ = non-g) verstanden werden" (49). Das ist bekannt.

 

s → g wirkt als Modell oder Muster für den Handelnden, als Gebarens-Vorbild, für den Zuschauer als Gebarens-Erwartung oder -Forderung an den Handelnden. Die daraus resultierende Berechenbarkeit der Handlungsverläufe beruht aber nicht auf einer Gleichheit des Gebarens aller Gruppenmitglieder, sondern auf einer Konsequenz, das heisst Abgestimmtheit des Gebarens aufgrund der (begründeten) Erwartung des oder der Andern. "Eine gewisse Gebarens-Koordination ist die Bedingung dafür, dass Menschen in Gemeinschaft leben können" (83; ähnlich 95, 102, 116, 118). Und umgekehrt: "Die soziale Interdependenz bedingt eine gewisse Gebarens-Koordination" (88).

Die je andere Erwartung bemisst sich hierbei an den Unterschieden der Personen, was sich aus der inneren Struktur (Zustandsordnung) des Sozialgebildes ergibt. Das heisst innerhalb des ordnung-tragenden Σ gibt es verschiedene Kategorien von Gruppenmitgliedern  (MM), für die infolge ihrer verschiedenen "Plätze" (Rollen, Standorte) je andere Gebarensmuster (und Moralen) gelten.

 

Der effektiven oder "Realordnung" (= faktisches Gebaren) steht also ein "Normgefüge" zur Seite; beide zusammen machen mit der Ordnungskontrolle (dem sozialen Druck) den ganzen Ordnungsmechanismus aus. Das Normen- oder Ordnungsgefüge meint „die Gesamtheit der innerhalb einer Σ bestehenden Ordnungserscheinung, der Inbegriff der aufrechterhaltenen Normen" (199).

 

Das Normengefüge besteht aus subsistenten Normen und Normsätzen (Verbalnormen), wobei letztere entweder nur das faktische Bestehen einer subsistenten Norm konstatieren, nicht aber eine solche schaffen (= Deklarierung einer habituellen Ordnung), oder eine Realordnung einführen, statuieren (= Proklamation einer statuierten Ordnung). Nur diese zweite Art von Normsatz hat programmatischen und autoritativen (unter Umständen imperativischen) Charakter (202-204).

 

Norm ist ein Gebarensmodell, wenn es mit Gültigkeit oder Verbindlichkeit (Normstigma v) auftritt (62, 167, 212, 225). Das Ist die subsistente Norm. Wird sie (nachträglich) in Worten ausgedrückt, das heisst fixiert, ist das ein Normsatz.

 

Die Verbindlichkeit der Norm steht in Zusammenhang mit Norm-Quelle und -Sender. Die sogenannte alternative Wirkungs-Chance der Norm entspricht dem Risiko (einer sozialen Reaktion der Gruppen-Öffentlichkeit, der "andern"), das der Einzelne bei Abweichung eingeht. Sie ist der Quotient aus Effektivität der Norm (= Befolgung + Reaktion auf Übertretung) und der Gesamtzahl normtypischer Situationen. Der Verbindlichkeitsgrad ist also als "quantifizierte Intensität" (71), als zahlenmässige Grösse ausdrückbar.

 

Ist das Mass der Verbindlichkeit zudem die Funktion der "Lebenswichtigkeit" der Gruppe für ihre Mitglieder sowie des Eifers der Gruppen-Öffentlichkeit für die Aufrechterhaltung des jeweiligen Gebarensmodells, so gilt: "v ist eine Wirklichkeit durch die Macht, die Σ über seine MM hat, und diese Macht, d. h. die Fähigkeit der Σ, das Gebaren der einzelnen M zu steuern, hat ihren Grund in der zwischen den MM bestehenden vitalen Abhängigkeit .... diese Macht ist eine Erscheinungsform der sozialen Interdependenz" (84-85; vgl. 348-349).

 

v in der Rechtsebene ist nichts anderes als einerseits die "Rechtspflicht" oder Verpflichtung des Norm-Adressaten, anderseits das "subjektive Recht" oder die Berechtigung (= rechtlich geschütztes - schutzbedürftiges und -würdiges - Interesse, Rechtsgut) des Norm-Benefiziars (167).

 

Der Motor, der den Mechanismus des normgemässen Handelns und der Reaktion auf Zuwiderhandeln in Gang hält ist die soziale Interdependenz (214).

 

 

II. Die Genese der sozialen Ordnungsgefüge

 

1. Gewohnheit und Brauch

 

Wie überhaupt Brauch und Sitte entstanden sind, können wir erfahrungswissenschaftlich nicht ergründen, das hiesse soviel wie die Menschwerdung des Menschen erklären wollen.

"Was möglicherweise erforscht werden kann, ist nicht die praesoziale Genesis des Brauchs und der subsistenten Norm, sondern die Herausbildung dieses oder jenes Brauchs, dieser oder jener Norm innerhalb eines sozialen Milieus, d. h. aber auf dem Hintergrund schon voraus bestehender Bräuche, Sitten und sozialer Institutionen, die das Gebaren steuern" (104).

 

Diesbezüglich wendet sich Geiger entschieden gegen den spätaufklärerischen und sozialdarwinistischen "Mythos der Zweckmässigkeit" (105-109, 199-202), welcher die Nützlichkeit eines Gebarens als selektiven Faktor behauptet, Geiger ist demgegenüber der Ansicht, "dass die Ursache für die So-Gestaltung eines gegebenen habituellen Ordnungsgefüges (in einem bestimmten Gesellschafts-Integrat) unbekannt sind - und es vorläufig wohl auch bleiben" (111).

 

Bedingung für eine subsistente Norm ist, dass sich ein faktisches Gebarensmodell („pattern of culture“) herausgebildet hat, kollektiv akzeptiert und eingespielt wurde. Wie geht das vor sich? In Anlehnung an R. Semons Mneme-Theorie (1904) nimmt Geiger an, dass der "engraphisch-ekphorische Mechanismus" beim Handelnden (H1) den Handlungsablauf s → g sich zur Gewohnheit verfestigen lässt, wobei sich diese festen, aber unverbindlichen Gewohnheiten "vorzugsweise in Anschluss an oft wiederkehrende Situationen" (93) bilden. Das engraphisch-ekphorische Gesetz disponiert also den Handelnden, s → g zu wiederholen.

 

Interessant ist nun, zu untersuchen, weshalb in gewissen Fällen die Gewohnheitsbildung ausbleibt. Geiger gibt als Gründe an:

1. Die Seltenheit des Eintritts von s

2. Die geringe vitale Bedeutung oder Eindrucksintensität, mit der s erstmalig erlebt wurde

3. Milieuveränderungen zwischen dem ersten und zweiten Eintritt von s

4, Die Tatsache, dass genaugenommen niemals zwei aktuelle Konstellationen von Umständen (= s) einander völlig gleich sind

5, Das erste s → g hatte für den Handelnden eine unbehagliche Konsequenz („nachteilige Konsequenz“; G. Spitteler, 1967), was Unlustgefühle (-engramme) bewirkte. Das wäre eine Art von Un-Zweckmässigkeitserfahrung

(6.) Zu beachten ist der umgekehrte Fall, wo ein Engrammkomplex s → g infolge häufiger Wiederholung so eingespielt ist, dass er, obwohl unzweckmässig geworden oder als so erkannt, dennoch weiter ekphoriert (ausgelöst) wird.

 

Genau dieselben Mechanismen sind beim Zuschauer (H2) wirksam, der erstens von H1 s → g erwartet und zweitens analog dazu in derselben Situation - als Nachahmung (Tarde, 1890) - s → g vollzieht.

 

Werden Gewohnheiten des Einzelnen durch Nachahmung also kollektiv akzeptiert und übernommen (integriert), heissen sie Brauch, "kollektiver Brauch (soziale Gewohnheit)" (95). Das bedeutet: Alle Personen in einer Gruppe pflegen tatsächlich s → g zu vollziehen; es besteht eine Regelhaftigkeit der Ereignisfolge faktisch.

 

Zur Brauchbildung kommt es, wenn eine Situation innerhalb eines Gruppen-Milieus typisch auftritt und jedes Mitglied in sie geraten kann. Je primitiver die Entwicklungsstufe dieser Gruppe, das heisst je weniger differenziert ihr Aufbau und ihre Lebensumstände (Daseinsbedingungen) sind, desto grössere Rolle spielen die Bräuche.

Welche von verschiedenen möglichen Antworten g auf eine typische Situation s aber ausgelesen und zum kollektiven Brauch erhoben wird, und weshalb gerade sie, ist schwer festzustellen. Es spielen hier dieselben Einpräge- und Auswahlmechanismen wie bei der individuellen Gewohnheitsbildung (vergleiche die oben angeführten sechs Punkte).Meist wird die erste beobachtete Handlung bei wiederkehrender typischer Situation nachgeahmt (A. Gehlen spricht in diesem Zusammenhang von „Entlastung“), wobei das Ansehen des Beispielgebers auf die Nachahmung Einfluss hat.

 

2. Sitte

 

Das Erwähnte ist aber alles noch keine (subsistente = tatsächlich geltende) Norm. Bevor die Norm durch (aktuelle) soziale Reaktion "offenbart" wird, besteht sie latent und kann nur aus der Reaktionsbereitschaft (= potentielle Reaktivität im Falle des Normbruchs) der Gruppen-Öffentlichkeit vermutet und kalkuliert werden. Der Normcharakter der (bisher) ausnahmslos befolgten Norm ist nur latent.

 

Die Norm nun entsteht, besser: manifestiert sich erst bei einer Abweichung - mit Entrüstung als Reaktion - von diesem gewohnheitsmässig das Handeln steuernden Modell s → g. Das Vergehen ist früher als die Norm, respektive das Verbot der Abweichung (59, 60, 96).

 

"Aus dem moralisch und rechtlich (normativ) indifferenten Brauch ist (verbindliche) Sitte geworden. Sitte Ist eine auf habituellem Weg entstandene, subsistente Norm. Von nun an ist ğ nicht nur eine Abweichung von bisheriger faktischer Regelhaftigkeit, sondern Verletzung sozial geforderter Regelmässigkeit" (96) [1].

Sitte beruht also auf dem Interesse (M. Weber: „Wirtschaft und Gesellschaft“, 24) der Gruppen-Öffentlichkeit an der Aufrechterhaltung von s → g sowie einer Reaktion auf Abweichen davon. Sitte wird "gesollt" (100).

 

Wie kommt es nun, dass bestimmte Bräuche in die normative Ebene, zur Sitte erhoben werden, andere jedoch nicht? Über die Selektion lässt sich ebensoviel oder -wenig sagen, wie bei Gewohnheit und Brauch.

Jedenfalls hängt sie aber zusätzlich mit der Reaktion (r) der Gruppen-Öffentlichkeit (Ω) zusammen. Wir stellten fest, "dass vom Brauch abweichendes Verhalten zwar befremdend (ungewöhnlich, wunderlich, sonderbar, auffällig, höchstenfalls lächerlich oder kränkend) wirkt, aber kein Einschreiten der Ω hervorruft, während wir als Sitte eine Gebarensregel bezeichnen, deren Nichtbeachtung die Ω mit einer r zu beantworten bereitsteht" (116).

Dem lauen Befremden, lächelnden Erstaunen, uninteressierten Sich-Wundern, unverstehenden Kopfschütteln oder bestenfalls Spotten bei brauchwidrigem Verhalten stehen also Irritation, Ärgernis, Entrüstung, interessierte Indignation, erzürnter Unwille, empörte Missbilligung, Repressalien oder öffentliche Verurteilung beim Sittenverstoss (ungeziemendem Gebaren) entgegen [2].

 

Ruft eine Abweichung vom Gebarensmodell also keine Missbilligung hervor, bleibt indifferent, haben wir Brauch, ruft die Verletzung durch öffentliche Reaktion soziale Nachteile hervor, haben wir Verbindlichkeit, Sitte.

 

Wie erklärt sich nun der Unterschied in den Reaktionen? Behauptet man, "dass r an Nichtbeachtung derjenigen Gebarensmodelle geknüpft werde, deren Aufrechterhaltung für Bestand und Zusammenhalt von Σ notwendig sei", müsste ein Kriterium für diese Notwendigkeit da sein, und das liegt "offenbar nur in der Bewertung durch die innerhalb Σ bestehende öffentliche Meinung" (116). Das ist also das Problem, welche s und g überhaupt verbindlich sind.

 

Geiger weist nach:

1. dass nicht etwa die vitalen Interessen, z. B. die Schutzbedürftigkeit des einzelnen, Auslesemassstab sein können. "Dass soziales Zusammenleben den Schutz inhaltlich ganz bestimmter Interessen der einzelnen im Verhältnis zueinander notwendig mache, ist ... ein längst überwundenes, naturrechtliches Postulat" (117; vgl. 159-166, 337)

2. dass auch Notwendigkeiten des Σ selbst nicht für die Auswahl der Gebarensmodelle und ihre Verbindlichkeitserklärung massgeblich sein können. Oft werden Gebarensweisen als Sitten aufrechterhalten, die dem Gedeih von Σ abträglich sind, nur weil sie durch lange Zeit vorher Brauch waren.

 

Für die Stellung anderer ausserrechtlicher Ordnungsgefüge wie Mode, Spiel, Ritus, Etikette und Konvention (vergleichbar etwa der Standessitte) in der Hierarchie ist bei Geiger nichts auszumachen.

Wir könnten uns für eine Normart aber an M. Weber halten, der formuliert: "Eine Ordnung soll heissen ... Konvention, wenn ihre Geltung äusserlich garantiert ist durch die Chance, bei Abweichung innerhalb eines angebbaben Menschenkreises auf eine (relativ) allgemeine und praktisch fühlbare Missbilligung zu stossen" (W. u. G., 27).

Konvention hat also verbindliche Gültigkeit. Auch Usancen, beispielsweise innerhalb des Handels, sind bei Abweichung gekennzeichnet durch scharfe Sanktion, meist in der Form von Vertrauensentzug oder Boykott (136, 185).

 

3. Die Ordnungssicherheit

 

Von besonderer Wichtigkeit ist folgender Punkt: "Das soziale Zusammenleben der Menschen erheischt eine gewisse Berechenbarkeit des Verhaltens (der jeweils "andern") in gewissen typischen Situationen" (118; 116).

Das ist die sogenannte "Ordnungssicherheit". Sie ist entscheidend in jedem Gesellschafts-Integrat. (M. Weber spricht in diesem Zusammenhang von "sinnhaft orientiertem Verhalten" und Gurvitch von der "Reziprozität der Perspektiven".)

Es kommt nicht darauf an, welcher Regelmässigkeiten man sicher sein kann, sondern dass man auf sie bauen kann.

 

Sicherheit von Leben, Eigentum und Vereinbarungen sind willkürliche, naturrechtliche Postulate. Wichtig ist allein, dass ich sicher weiss, welche Gefahren ich bei Normbrüchen eingehe. In diesen Bereich gehört sogar das Fehlen von Normen für bestimmte s. Jede Handlung auf diese typische s ist erlaubt und mit keinem sozialen Reaktionsrisiko verbunden.

 

Die Ordnungssicherheit entspricht etwa dem "Gelten der legitimen Ordnung" bei M. Weber (W. u. G., 25-31) und drückt nach Geiger "im Grunde erschöpfend den Sinn aus, den die gesellige Ordnung überhaupt hat und haben kann. Logisch genauer gesagt: die soziale Funktion jedes Ordnungsgefüges besteht gerade darin, den Gliedern einer Gruppe in ihrem Verhältnis zu- und Verkehr miteinander mehr oder weniger Sicherheit zu bieten ... [Das] Zusammenleben ist nur möglich unter der Voraussetzung, dass der Eine weiss, wie sich der Andere in gewissen typischen Situationen verhalten werde, damit er selbst sich darauf einrichten könne" (102).

 

Die Ordnungssicherheit hat zwei Dimensionen:

1. Die Ordnungsgewissheit oder Orientierungssicherheit: Ich weiss, was ich (und der andere) tun und nicht tun darf; ich weiss also um den Inhalt der Normen, kenne meine Rechte und Pflichten.

2. Die Ordnungszuversicht oder Realisierungssicherheit: Sie ist das Wissen darum, dass ich meiner Rechte auch teilhaftig werde, auf meiner Pflicht behaftet werde. Sie ist als psychische Entsprechung der Verbindlichkeit proportional deren Intensität.

 

Bei der latenten Norm fehlt 2., da ich ja nichts über ihre Verbindlichkeit weiss. Vermutlich - das erwähnt Geiger nicht - fehlt aus dem gleichen Grund auch 1., da ich nicht weiss, ob meine Handlungen risikofrei sind - ich handle ja einzig aus Gewohnheit. Erst bei der subsistenten Norm weiss ich, dass die Verbindlichkeit grosser als Null ist, womit ich zumindest um den Norm-Inhalt weiss, also Ordnungsgewissheit (1.) habe, wenn auch die Ordnungszuversicht (2.) noch einen unbestimmten Grad hat.

 

4. Von der Sitte über die Sittenregel zur Satzung, d. h. zum Recht

 

Bei der Sitte sind also gewisse habituell entstandene Gebarensmodelle mit Verbindlichkeit, das heisst Normcharakter ausgestattet worden und zwar durch nichtaufklärbare, unkontrollierte Vorgänge. "Die Realordnung ist ... aus dem Leben in Σ selbst hervorgewachsen" (60). "Die habituelle Norm hat weder Urheber noch Anfang" (120).

 

Wir sahen, dass das regelhafte Verhalten, respektive die Abweichung der Norm vorausgeht. Die Sitte hat also eine retrospektive Struktur: Wie bisher gehandelt wurde, so ist auch heute zu handeln. Nun kann demgegenüber ein bestimmter Jemand in einem angebbaren Zeitpunkt eine Norm statuieren: Künftig ist so (gemäss) zu handeln, wie es heute bestimmt wird. Eine solche Norm heisst Satzung und hat prospektive Struktur.

 

Zwischen Sitte und Satzung steht die Sittenregel: Die Erfahrung der Korrelation von g mit sozialer Billigung und ğ mit Reaktion findet ihren verbalen Ausdruck in einem Regelsatz, dem deklarativen Normsatz. Das ist die Formalisierung der verbindlichen Regeln für menschliches Handeln.

Wird nun der bei der Sitte habituell entstandene Normkern s → g "durch ein erfinderisch vorgestelltes (als abstrakte Vorstellung beschreibbares) Gebarensmodell ersetzt, liegt ein proklamativer Normsatz vor, der eine statuierte Norm ausdrückt (Satzung). Die Satzung erscheint so als künstliche Bildung nach dem Muster der im deklarativen Normsatz ausgedrückten Norm habituellen Inhalts" (121).

 

Ist der Typus Satzung und Gesetz in archaischen Gesellschaften im allgemeinen unbekannt, gehört er "offenbar einer ziemlich fortgeschrittenen Stufe gesellschaftlicher Entwicklung an und ist vielleicht sogar eines der wichtigsten Kriterien für den Übergang vom Archaismus zur Zivilisation". Es Ist "höchst wahrscheinlich, dass die statuierte Norm ihren ersten Ursprung in der Sphäre des Rechts im eigentlichen Sinn hat und in sozialen Ordnungsgefügen ausserrechtlicher Art nur als Nachbildung des Gesetzes vorkommt" (121).

Das heisst: die (staatliche) Gesetzesvorstellung veranlasst zur analogen Nachbildung von Satzungen und Statuten in bestimmten Gesellschafts-Integraten. Die staatliche Gesetzgebung respektive die statuierte Rechtsnorm des Staates ihrerseits trat wohl zuerst als Anweisung des Herrschers an seine Beamten auf (181-182), um entweder "volklich-habituelle Normen durch neuorientierte obrigkeitliche Praxis zu verdrängen" (122) oder neue Situationstypen, für die keine habituellen Gebarensmodelle ausgebildet waren, regelnd zu erfassen.

 

5. Das Recht

 

Mit der Satzung sind wir also auf der Rechtsebene angelangt. Wir sahen: entfaltetes "Recht" tritt erst bei verhältnismässig hochentwickelten Gesellschaften auf, Es ist "eine Gebarens-Koordination besonderer Art, wie sie Gesellschaften einer besonderen Struktur zugehörig ist" (125). Es ging aus archaischen Ordnungsgefügen hervor - Sitte dort entspricht dem, was in unserem Milieu Recht ist.

 

Recht gehört einem besonderen ordnung-tragenden Gesellschafts-Integrat zu: dem Staat als differenziertem Personenkollektiv unter einer obersten Herrschaftsorganisation (übergeordneten politischen Zentralmacht; vgl. 128-133, 348-349, 353-355, 375-379); Geiger nennt ihn "Rechtsgesellschaft" (129).

 

Von der vorrechtlichen Ordnung unterscheidet sich die rechtliche dadurch, dass zu ihrer Handhabung ein besonderer Apparat mit Organen (M. Weber nennt ihn "Stab" oder "Anstalt") herausgebildet wurde. Die soziale Interdependenz innerhalb des "Staatsvolks" wurde in einer Zentralmacht "verdichtet", und es erfolgte eine Veranstaltlichung des Kontrollmechanismus.

Das "sekundäre Gebarensmodell", die Spontanreaktion der Gruppen-Öffentlichkeit (oder des einzelnen Betroffenen) wird selbst zum Inhalt einer subsistenten Norm, die eine (richterliche) Instanz verpflichtet, im Namen von Σ die Reaktion zu vollziehen (das ist die sekundäre oder Sanktionsnorm (144ff, 217-219, 226-227).

Die soziale Reaktion ist also` nicht mehr spontan, sondern institutionalisiert; sie wird von einer Instanz aufgrund eines "Verfahrens" (nach gewissen Regeln) "verhängt". "Die Instanz ist ... geradezu ein Wahrzeichen der Rechtsordnung" (131), und "Recht ist insofern: ein von einer Zentralmacht monopolisierter Ordnungsmechanismus" (133; ähnlich 339, 370-372)

 

Die Instanz hat ein Reaktionsmonopol, das sich gliedert in Verhängungs- und Vollstreckungsmonopol. Die rechtliche Reaktion ist hierbei nicht wie beim Sittenverstoss mehr oder weniger dem freien Belieben anheimgestellt, sondern nach Art und Schwere gestuft, am Rechtsverstoss gemessen. Damit ineins läuft die Tendenz, nicht mehr gegen den Täter, sondern auf seine "Tat" zu reagieren, das heisst "ohne Ansehen der Person" zu urteilen.

 

Wiederum wissen wir nicht viel über die Selektion derjenigen Teile von Ordnungsgefügen, die verrechtlicht, jurifiziert werden (159). Wir können nur feststellen: Rechts-, das heisst Verbindlichkeitsquelle ist immer "die Rechtsgesellschaft selbst (mit ihrer besonderen sozialen Interdependenz und) mit ihrem rechtlichen Ordnungsmechanismus und dessen Organen" (169). Man kann von einer "strukturellen Gesamtverursachung" (169-202, ja bis 290) sprechen.

 

Einer der häufigsten Fälle ist, dass Gewohnheit als Rechtsquelle fungiert, niemals aber Recht erzeugt (sondern nur Gewohnheitsregeln). Die andern Quellen sind Gesetzgebung, Gerichtspraxis und Rechtswissenschaft. Schon 1912 formulierte Eugen Ehrlich im Sinne Geigers, dass aber "der Schwerpunkt der Rechtsentwicklung auch in unserer Zeit, wie zu allen Zeiten, weder in der Gesetzgebung noch in der Jurisprudenz oder in der Rechtsprechung, sondern in der Gesellschaft selbst" liege.

 

Die sogenannte „Geltung“ einer Rechtsnorm besteht nun einzig darin, "dass sie innerhalb einer gegebenen Rechtsgesellschaft (in grundsätzlich messbarem Umfang) durchgeführt wird" (207). Sie ist eine "Wahrscheinlichkeit des Ereignisablaufs" (209), wobei die Instanz  "durch ihre Urteilspraxis (= auf Sanktionsbereitschaft beruhende Sanktionsierungsgewohnheiten) der subsistenten Rechtsnorm ihren Verbindlichkeitsumfang" (252; vgl. 215-220, 246-290, 332-336, 389-395) verleiht. Das Ermessen und die auf dieser quantifizierenden Betrachtung beruhende Anwendung (Judikatur) spielt damit eine rechtskonstitutive Rolle.

 

Was ist endlich der "Herrschaftsapparat"? Er Ist die Zentralmacht, die darin besteht, "dass ein von gewissen Personen oder Personenkreisen getragener und kontrollierter Apparat geschaffen ist, mit dessen Eilte es möglich ist, die sozialen Geschehensabläufe innerhalb des Staatsvolks zu steuern" (223, vgl. 344-348).

 

Fassen wir zusammen: "Niemals ist die Rechtsordnung das einzige innerhalb einer differenzierten Gesellschaft herrschende Ordnungsgefüge. Gesittung und Konvention nehmen daneben breiten Raum ein. Wir bezeichnen diese Erscheinung als Pluralismus der geselligen Ordnungsgefüge" (157).

 

6. Recht und Moral

 

Kurz noch zur Moral: Als Hauptkennzeichen des Rechts bedeutet die Veranstaltlichung eine Veräusserlichung von Ordnungserscheinungen. Das ist die Ersetzung des spontanen Drucks der Umgebung „durch den von einer Institution ausgehenden, organisierten Zwang“ (295). Entgegengesetzt dazu gibt es aber auch eine Verinnerlichung oder Spiritualisierung; ihr Produkt ist die Moral (294).

 

Im primitiven, "kommunitären" Ordnungsgefügen bestehen schon ein "äusseres Zwangs- (besser Drucks-) und ein inneres Ehrfurchtsmoment nebeneinander, gegenseitig bis zur völligen Einheit sich durchdringend" (295). Wird das äussere Zwangsmoment (= sozialer Druck) integriert durch Institutionalisierung und Säkularisierung, so setzt das gegenläufig "die in der kommunitären Ordnung ebenfalls wirksame innere Bindung als selbständige Potenz frei".

Es entfalten sich damit "in einem Vorgang der Polarisierung, ausgehend vom kommunitären Zustand, Recht und Moral ... als zwei auf verschiedenen Prinzipien beruhende, explizite Systeme der Handelnsordnung" (296; ebenso 301, 329).

 

Geiger bezeichnet das unter anderem durch die Gegensatzpaare: "Institutionell - spirituell .... Äussere Pflicht zu etwas - innere Verpflichtung auf etwas. Muss - Soll .... Vorschrift - Gewissen. Gesellschaft - Person. Soziale Koordination als oberste Notwendigkeit - das Gute als oberster Wert" (296).

 

Die ausführliche Erörterung Geigers, weshalb Werturteile theoretisch gemeintes A-Theoretisches (also Ideologie) und Wertideen illusionär sind (313-329) ist für uns hier ohne Belang. Auch das Thema "Recht und Macht" (337-381) übergehen wir.

 

7. Sind die vorrechtlichen Ordnungsgefüge triebhaft?

 

Der Vollständigkeit halber sei noch auf ein Randproblem eingegangen. Geiger schreibt: "Die statuierte Norm ist dem Willen einer sie proklamierenden menschlichen Instanz zurechenbar und zielt prospektiv auf Steuerung künftiger Ereignisverläufe ab. Ihr Inhalt ist daher stets Ausdruck von Zweckvorstellungen der proklamierenden Instanz - mögen diese Zweckvorstellungen nun vernünftig sein oder nicht. Die statuierte Norm gehört der rationalen Ebene an, die habituelle der Triebebene" (122; vgl. weiter zum Trieb 328).

 

Das Ist einleuchtend, doch ergibt sich damit ein Widerspruch mit Geigers früheren Ausführungen, weshalb wir nochmals zur "Hierarchie der Ordnungsgefüge" zurückkehren und unter die unterste Stufe hinabgehen.

Geiger stellt fest: Nicht alle wahrnehmbaren Regelhaftigkeiten Im Verlauf des Gruppenlebens sind gesellige Ordnungserscheinungen. "Die unmittelbar naturbedingten Rhythmen des geselligen Lebens, rein physiologisch (durch Reflex, Trieb, Instinkt) verursachte Regelhaftigkeiten im Handeln der MM sind nicht Ordnungserscheinungen in eigentlichen Sinn, wenn sie auch auf primitiver Stufe zu Ausgangspunkten für Herausbildung geselliger Ordnungsphänomene werden" (53).

Erst wenn ein beispielsweise vom Wechsel der Jahreszeiten erzwungener Rhythmus etwa durch Ritus und Zeremoniell überbaut wurde, ist er in das soziale Ordnungsgefüge des Σ einbezogen [3].

Also: "Gesellige Ordnung beginnt, wo das Walten natürlicher Gesetzlichkeiten endet ... [Sie] waltet nur in sogenannten Willenshandlungen" (54) oder besser: in "motivisch bedingtem Verhalten" (56).(Das ist dem "subjektiv gemeinten Sinn" M. Webers vergleichbar.)

Weiter: "Um ein regelhaftes Handeln als soziale Ordnungserscheinung ansprechen zu können, muss es denkbar sein, dass der Einzelne statt s → g auch s → ğ tun könnte, 'wenn er wollte' " (54). Da wäre nun das Problem:

1. Was heisst "denkbar"?

2. Wenn nach Definition geselliges Leben erst oberhalb der rein triebhaften Sphäre stattfindet, wie kann dann die habituelle Gebarenswelt - von Gewohnheit über Brauch und Sitte bis zu deren Deklaration in der Sittenregel - als der Triebebene zugehörig bezeichnet werden?

 

Doch diese Problemstellung gehört nur entfernt zu unseren Anliegen.

 

 

III. „Recht ist die Bedingung der Freiheit“

 

Die vorrechtlichen Ordnungsgefüge beruhen auf einer Einschmelzung des einzelnen in die Gruppe, auf einer grossen Intimität und Intensität der sozialen Interdependenz, auf einem Vertrauensverhältnis. Das lässt aber dem einzelnen - da er unter ständiger persönlicher Beobachtung, ja "allgemein-gegenseitiger Überwachung" (296) steht - einen geringen Grad von persönlicher Emanzipation oder Persönlichkeitsbewusstsein. Der soziale Druck ist gross.

Die arbeitsteilige Grossgesellschaft erlaubt demgegenüber ein erhöhtes individuelles Selbsterleben, dadurch dass der einzelne in einer Atmosphäre distanzierter Kühle, anonymer Fremdheit lebt (134-136). "Die triebhafte Einheit (der Gruppe) wird durch rationale Gegenseitigkeit ersetzt" (136; 149), deren Kennzeichen mangelndes Vertrauen ist.

 

Die Entwicklung ging so vor sich, "dass zuerst homogen ungegliederte soziale Kleingebilde sich zu vertikal gegliederten sozialen Grossgebilden entfalten, hierauf aber ein Doppelprozess einsetzt, in dessen Verlauf auf der einen Seite die Persönlichkeit mehr und mehr als eigenständige und einmalige Existenz freigesetzt wird, auf der andern Seite aber die Gesellschaft zu einem verwickelten System organisatorischer Zusammenballungen von molekular freibeweglichen Einern wird (= Massengesellschaft) .... Der Freisetzung der Persönlichkeit ... entspricht nun genau der Verinnerlichungsprozess der Moral" (309).

 

Doch hat dieser Tatbestand eine Kehrseite: "Die zunehmende Veranstaltlichung der äusseren Lebensbedingungen in der modernen Massengesellschaft auf der einen Seite, auf der andern aber der Ansehensverlust, den die Wertmoral als Lebensform infolge Auflösung ihrer Objektivitätsansprüche erleidet, führt beim Durchschnitt der Menschen... zu einem gewissen Grade abgekühlter sittlicher Gleichgültigkeit"(307). "Genauso weit wie die Spiritualisierung und Verinnerlichung der Moral gediehen ist, hat die Moral ihre Bedeutung als soziale Lebensordnung verloren" (327).

 

Träfen diese Behauptungen zu, hiesse das, dass der Rechtsstaat unabdingbare Bedingung für Selbstfindung und -werdung, Bewusstseinserweiterung und freie Entfaltung wäre. Und wirklich formuliert Geiger unter Aufnahme des Hobbesschen Hauptgedankens: "Recht ist die Bedingung der Freiheit" (338) [4]; vergisst jedoch nicht, zu ergänzen: "Jede Rechtsordnung bedarf zu ihrem Bestand der Macht" (348).

Recht und Staatsmacht sind gleichzeitig gegeben (355), d h. „Der ‚Staat’ ist per definitionem ein Herrschafts-, d. h. aber: ein Machtgebilde“ (353).

 

Noch etwas genauer: Macht – als „Chance, gewisse Ereignisverläufe steuern zu können“ (340) – besteht schon in vorrechtlichen Ordnungsgefügen als erwähnter sozialer Druck. „Eine Gesellschaft ohne Machtverhältnisse ist undenkbar“ (352). In der Rechtsgesellschaft wird Macht nun nicht willkürlich, sondern nach gewissen Regeln ausgeübt (351).

Herrschaft ist nichts anderes als monopolisierte Macht. Falsch ist es, von Machthabern im Gegensatz zu den Machtlosen zu sprechen (350, 354, 356, 366); Macht ist nur relativ. - Diese Bemerkungen sind wichtig im Zusammenhang der "Entfremdung".

 

 

IV. Zusammenfassung

 

1. Menschliches Zusammenleben erfordert grundsätzlich Gebarens-Koordination, d. h. Ordnungssicherheit (-gewissheit und -zuversicht).

 

2. Die Entstehung eines habituellen Gebarensmodells ist ein langsam fortschreitender Prozess (105). "Gewohnheit entsteht in gleitendem Prozess" (192), kann sich auch verändern und erlöschen.
Auch die Sitte hat eine gewisse Flexibilität. Ihre deklarative Formulierung vermindert aber die Wandlungsfähigkeit. Daran anknüpfend erhält der Normsatz (als Gesetz proklamiert) prospektiven Charakter (vgl. 247ff).

 

3. s ist gar keine "objektiv gegebene Einheit", denn nie sind zwei aktuelle Konstellationen von Umständen völlig identisch. Was dem einen als Wiederholung derselben s1 erscheint, kann vom andern als anders geartete s2 aufgefasst werden (112; vgl. 230-233, 242-246).
Ebenso steht der Umfang von
g nicht immer genau fest. Dies gilt in besonderem Mass bei der Rechtsnorm. Der Normsatz selbst "kann immer nur einen begrifflichen Bezugspunkt für konkrete Tatbestände mitteilen" (247;vgl. 261ff). "Erst in der Anwendung des Normsatzes gestaltet sich die begriffliche Norm" (246). „Erst die Anwendung eines Normsatzes gibt der Norm ihren Bedeutungsumfang“ (244). „Die Anwendung reproduziert von Fall zu Fall die Geltungssubstanz der Norm in schmiegsamer Fortbildung" (259).

 

4. "Zur festen Gewohnheit verhärtet widersteht ein althergebrachtes Gebarensmodell neuen Zweckanforderungen" (109; ähnlich188).
Wir müssen feststellen, "welch unendliche Mühe es im Lauf der letzten Jahrhunderte gekostet hat und noch kostet, Vernunft- und Zweckrücksichten auch nur innerhalb der abendländischen Gesellschaft Geltung zu verschaffen" (106). Das gehört in den Zusammenhang des "cultural lag".

 

5. Bei der Herausbildung von (neuen) Bräuchen und Sitten ist der ganze Hintergrund schon voraus, d. h. bisher bestehender Bräuche, Sitten und Institutionen, welche das Gebaren steuern, zu berücksichtigen (104).

 

6. Eine Norm kann eingehalten werden, auch wenn eine Mehrzahl sie nicht mehr akzeptiert. Es ist "sehr wohl möglich, dass der Standard nur eine Minderheit persönlicher Meinungen für sich hat und dennoch von einer Mehrheit (sogar oft mit einem gewissen Eigensinn) sozial aufrechterhalten wird" (148).
Dasselbe gilt für das Recht: Eine Rechtsnorm wird durchgesetzt, auch wenn sie allgemein abgelehnt wird (293-295, 405-406).

 

7. Wenn die Gruppen-Öffentlichkeit (oder die Instanz) nicht (mehr) auf Normabweichung reagiert, ist das selbst keine Normwidrigkeit, sondern Zeichen dafür, dass die Verbindlichkeit der Norm abnimmt, sie sogar fallengelassen wird (obwohl der Normkern weiterbestehen kann) oder die Bildung einer neuen Norm geschieht. Jedenfalls haben sich die sozialen Ordnungsstandards geändert (145-146, 279ff).

 

8. Die "Freiheit des Bürgers" in der Rechtsgesellschaft ist messbar an der Anzahl typischer s, die durch "negative Norm" geregelt sind. D. h. wenn ein Bürger
a) die Norm erfüllt,
b) sie zwar nicht erfüllt, die Situation aber nicht normtypisch ist (andere Adressaten oder Benefiziare) oder
c) das Gebarensmodell gar keine Norm ist,
darf die Instanz keine Sanktion verhängen: der Bürger „geniesst die Garantie der Freiheit von Rechtsnachteilen .... Das ... Sanktions-Tabu [272] für die Instanz ist die Norm der Freiheitsgarantie".
Freiheit ist damit "der Inbegriff der Möglichkeiten sozial risikoloser Dispositionen im Lebensvollzug" (227)

 

9. Im Bereich des Rechts kann die Rechtswissenschaft (unter Beizug anderer Wissenschaften) nur Vorschläge für neue Normen machen. Das bedeutet, dass sie "zwar rechtskonstitutiv als Inhaltsquelle neuer Normen auftreten kann, aber niemals Geltungsquelle von Rechtsnormen ist". Der Vorschlag erhält seine Verbindlichkeit erst, "indem er sich im Rechtsleben durchsetzt" (284).

 

10. Es ist fraglich, ob wir die (in ihrem Ausmass) mehr oder weniger dem Belieben anheimgestellte Reaktion des einzelnen oder der Gruppen-Öffentlichkeit (153-155) im positiven Sinn als "elastisch" bezeichnen können. Wenn Elastizität mit Willkür, Laune oder Gelegenheit zusammenhängt oder -fällt, Ist sie vielleicht nicht unbedingt erstrebenswert.

 

11. Was bedeutet Reaktivierung der elastischen Selbstregulierungsmechanismen? Ist es z. B. wünschbar, dass ein strafgesetzlicher Tatbestand unter den Betroffenen ohne Beanspruchung der Rechtssprechung abgegolten wird? Etwa: "Der Schuldner ... bezahlt freiwillig" (237ff).
Was hat solche aussergesetzliche und -gerichtliche Konfliktregelung für Folgen?

 

 

Anmerkungen

 

1 Aus Gleichförmigkeit, Regelhaftigkeit (die unreflektiert-gewohnheitsmässig ist) kann eine Regel abgelesen werden; regelmässig sind Vorgänge, die einer Regel oder Maxime gemäss ablaufen, ihr (reflektiert und zwingend) folgen.
M. Weber zählt Brauch zu den Regelmässigkeiten („Wirtschaft und Gesellschaft“, 23) und verneint bei der Sitte (= lange eingelebte Gewohnheit) die Verbindlichkeit (W. u. G, 24). Beides würde Geiger ablehnen.
Anderseits zählt etwa G. Heilfurth in W. Bernsdorfs "Wörterbuch der Soziologie" (1969, 931-933) Gepflogenheiten und Bräuche zu "Sitte", die er als ungeschriebene Ordnungsmodelle und in religiösen Begründungen basierend fasst. Sie hänge vor allem mit der Sprache zusammen (Leitbildvermittlung, funktionale Erziehung, Lernprozesse, Anpassung, Internalisierung, Sozialisation).
Diese Vertauschung respektive Vermischung von Brauch und Sitte ist umso erstaunlicher, als Jhering schon 1883 den unterscheidenden Verbindlichkeitsanspruch der Sitte (gegenüber der durchaus übertretbaren Gewohnheit) hervorhob. Er fasste sie als "Grammatik des Handelns".

 

2 Weitere Sanktionsarten sind:
Rache, Vergeltung, Ahndung; Zwang zur Reparation (Wiedergutmachung) durch verspäteten Vollzug oder äquivalierenden Schadenersatz (z. B. Zahlungszwang);
kalte Schulter zeigen, Ächtung, Repressalien: Busse, Strafe, sozialer Boykott, (todbringender) Ausschluss, vogelfrei erklären, Hinrichtung;
aber auch: Leistungszwang (unter Umständen durch Sanktions-Verzicht = Kreditsystem; G. Spitteler, 1967), Ermahnung.

 

3 Auch z. B. bei physischer Anspannung und Ausspannung, die in Arbeit und Feier (Fest, Spiel) "überhöht" wird.

 

4. Vgl. auch John Locke: „Where there is no Law, there is no freedom.“

 

 

(Referat in einem Soziologischen Seminar, 16.1.1970)

 



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