Home Primitive sind demokratisch und intellektuell

 

Zu der Schrift

Claude Lévi-Strauss: "Primitive" und "Zivilisierte". Nach Gesprächen aufgezeichnet von Georges Charbonnier. Im Verlag der Arche, Zürich, 1972
(französisch: Entretiens avec Claude Lévi-Strauss. Paris: Plon, Juillard 1961)

 

 

Diese 11 Gespräche beruhen auf einer Sendereihe des französischen Radios Ende 1959.

Seither hat sich manches geändert, vor allem, was die Kolonialländer betrifft, doch die Ausführungen des Begründers der strukturalen Anthropologie, Claude Lévi-Strauss - 1908 in Brüssel geboren, 1935-39 auf Expeditionen im Mato Grosso und seit 1959 Lehrer am Collège de France - verdienen auch heute noch Beachtung.

Wie jeder ernsthafte Wissenschafter betont er unermüdlich, dass er manches nicht wisse und keine Rezepte für die Gegenwart bereit halte. Wohltuende Bescheidenheit spricht aus jedem Satz, obwohl dann Ende der sechziger Jahre der Strukturalismus als Schlüssel zu allen Weltgeheimnissen angesehen oder angepriesen wurde.

 

primitiv = demokratisch; zivilisiert = ausbeuterisch

 

Vor der Jahrhundertwende gab es drei- oder viertausend verschiedene "Gesellschaften". Auch wenn heute viele davon untergegangen sind, kann der Ethnologe nicht alle kennen und ist jeder Einteilungsversuch fragwürdig: "Man muss also vorsichtig sein und nicht sämtliche Typen, sondern nur die extremsten Formen einander entgegensetzen."

 

Die beiden Extreme fassen wir häufig als "Primitive" und "Zivilisierte“; eine recht unbefriedigende Unterscheidung, wenn man bedenkt, dass vollkommene Demokratie bei den "Primitiven" zu Hause ist und die "Zivilisation" auf Sklaverei, Leibeigenschaft oder Klassenunterschieden beruht.

 

Claude Lévi-Strauss vergleicht diese beiden Extreme mit mechanischen und thermodynamischen Maschinen, also mit Uhren und Dampfmaschinen.

"Die ersteren verwenden die Energie, die man ihnen am Anfang zugeführt hat: Wenn sie sehr gut konstruiert wären und wenn es keine Reibung und Erhitzung gäbe, könnten sie mit der Anfangsenergie theoretisch unendlich lang arbeiten.

Die Arbeitsweise der thermodynamischen Maschinen ... beruht dagegen auf einem Temperaturunterschied zwischen ihren Teilen, zwischen Dampfkessel und Kondensator. Diese Maschinen leisten enorm viel, viel mehr als die anderen, aber nur, indem sie ihre Energie verbrauchen und nach und nach zerstören.

Die Gesellschaften, die Gegenstand der ethnologischen Forschung sind, können ... mit unseren grossen modernen Gesellschaften verglichen, sozusagen als 'kalte' Gesellschaften im Gegensatz zu 'heissen' Gesellschaften bezeichnet werden, als Uhren im Unterschied zu Dampfmaschinen. Es sind Gesellschaften, die sehr wenig Unordnung erzeugen - sehr wenig von dem, was der Physiker 'Entropie' nennt. Sie haben die Tendenz, in ihrem Anfangszustand zu verharren, weshalb sie uns auch wie Gesellschaften ohne Geschichte und ohne Fortschritt vorkommen."

 

primitiv = Ordnung; zivilisiert = Ordnung und Unordnung

 

Unsere modernen Gesellschaften brauchen also, um zu funktionieren, eine innere Spannung, ein potentielles Gefälle, das durch die verschiedenen Formen sozialer Hierarchie entsteht. Als riesige Dampfmaschinen betrachtet, bewirken sie Entropie, doch wenn wir sie als Motoren betrachten: Ordnung.

Diese Aspekte - Unordnung und Ordnung - entsprechen unserer Art, eine Zivilisation zu betrachten, einerseits als Gesellschaft, anderseits als Kultur. So plastisch und leichtverständlich rollt der (damals) fünfzigjährige Ethnologe das ganze Spektrum der verschiedenen Gesellschaftsformen auf.

 

Schade, dass Charbonnier kein geschickter Interviewer ist, langatmig Fragen vorbereitet und manches, was sein Partner sagt, nicht oder falsch versteht. Dennoch sind diese Gespräche, die auch die Rolle der Sprache (als "kulturelle Gegebenheit par excellence", d. h. als Unterscheidungsmerkmal von Natur und Kultur), der "neolitischen Revolution" (Landwirtschaft, Zähmung von Haustieren, Töpferei, Webkunst) und der Schrift (3000 v. Chr.; als "Ausdruck der Macht einzelner Menschen über andere Menschen und über Güter') erläutern, sehr aufschlussreich.

 

Da sich unsere 'grossen' Gesellschaften, die im Gegensatz zu den primitiven auf der Schrift basieren, immer mehr zu unüberblickbaren Riesenkomplexen entwickeln, wünscht Lévi-Strauss eine Dezentralisierung, ein Handeln auf 'Ebenen der Authentizität', d. h. im Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen, wo man einander noch kennt und anerkennt.

 

primitiv = intellektuell; zivilisiert = magisch

 

Auch bei der Kunst lassen sich Gegensätze feststellen: Der „primitive“ Künstler erfüllt mit seinen zeichenhaften Gebilden die Erwartungen der ganzen Gruppe, während der "zivilisierte“ nur für einen bestimmten Personenkreis, die Liebhaber arbeitet; zudem tragen seine Werke mehr gegenständlichen und darstellenden Charakter.

 

Das ist die zweite Paradoxie neben der Demokratie: Die Kunst der Primitiven ist durch eine „rein intellektuelle Haltung“ gekennzeichnet, die das Kunstwerk als Zeichen auffasst, während die Kunst etwa der griechischen Klassik oder der florentinischen Renaissance „eine Begierde magischer Art“ verkörpert, nämlich „auf der Illusion beruht, man könne durch das Bildnis nicht nur mit der Wirklichkeit Kontakt aufnehmen, sondern sie sich sogar aneignen. Ich möchte das die 'Besitzgier gegenüber dem Gegenstand' nennen, ein Mittel, von äusserem Reichtum oder Schönheit Besitz zu ergreifen.“

 

Die zeitgenössische Kunst nun hat sich bis in Sackgassen vorgewagt: Die 'Unermesslichkeit des Gegenstandes" wird gar nicht mehr gesehen, und so kann dessen „Struktur“ nicht enthüllt werden. Es fehlt der modernen Malerei an Bedeutungsgehalt, an semantischer Funktion; sie strebt zum Dekorativen und Anekdotischen.

Vielleicht wird die abstrakte Malerei wieder zur realistischen, minuziösen. Möglicherweise verschwindet Kunst aber auch ganz.

 

Dieses ebenso informative wie fesselnde Bändchen gibt uns Einblick in das Denken eines Wissenschafters, der uns lehrt, sorgfältig und liebevoll die Weit der "Primitiven" und der Heutigen zu betrachten. Trotz einiger kleinerer Widersprüche, die sich durch den Gesprächscharakter ergeben: scharf in den Abgrenzungen, bestechend in den Einsichten, beherzigenswert in den Folgerungen.

 

(geschrieben im Dezember 1972;

erschienen in der „Zürichsee-Zeitung“, 19. Januar 1973)

 




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