Home Die Gesellschaft: Gefängnis oder Karneval?

 

Peter L .Berger: Einladung zur Soziologie - Eine humanistische Perspektive. Walter Verlag, Olten 1969; München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 1977; 4. Aufl. 1984

(engl.: Invitation to Sociology - a Humanistic Perspective. Garden City, N. Y.: Doubleday/ Anchor Books 1963).

 

 

"Soziologisches 'Verstehen' kann immer wieder nur zur Einsicht in die Paradoxie der Gesellschaft führen: ihre Gewalt und zugleich Schwäche ... Die Gesellschaft 'definiert' den Menschen und wird ihrerseits umgekehrt vom Menschen 'definiert'. Diese Paradoxie rührt unmittelbar an den Kern der 'Condition humaine'."

 

Höchst erfreulich, dass die Einladung zu einer Wissenschaft so gekonnt, humorvoll und unterhaltsam ausgefallen ist. Nichts Schwierigeres, als eine zunehmend mit Statistiken und Diskussionen betrachtete eigenständige Universitätsdisziplin einer breiteren Leserschicht vorzutragen.

Doch da der Bürger - von der Nur-Hausfrau über den Prokuristen bis zum Politiker - Bescheid wissen muss, hat er informiert zu werden. Worüber? Über die Jagd nach Transparenz.

 

Die Soziologie entstand erst mit der Auflösung des absolutistischen Staats; das darunterliegende Gerüst der Gesellschaft wurde sichtbar, "eine Welt von Motiven und Kräften, zu der die offiziellen Lesearten der gesellschaftlichen Wirklichkeit keinen Zugang eröffneten".

 

Der Soziologe durchschaut und entlarvt

 

Das war zu Beginn des 19.Jahrhunderts. Seither ist der Soziologe - professionell neugierig und kosmopolitisch eingestellt - daran, gesellschaftliche Strukturen zu durchschauen und entlarven, hinter den Fassaden verborgene Interessengruppierungen und Machtkonstellationen aufzudecken und auch weniger "feine" Seiten des menschlichen Zusammenlebens zu untersuchen. Mit wissenschaftlicher Methodik, Nüchternheit und Redlichkeit erforscht er das soziale Handeln und seine Fixierungen und erkennt dabei, dass alles - auch Weltanschauungen und Sinnsysteme - relativ, je verschieden gesellschaftlich bedingt und begründet ist. Nicht nur Menschen, auch Ideen haben ihren gesellschaftlichen Ort. "Situationen" sind das, wofür sie gehalten werden, und "Wirklichkeit" ist eine gesellschaftliche Konstruktion.

 

Wir spielen nach strengen Spielregeln

 

Der Autor geht so weit, die Gesellschaft mit einem Drama oder sogar Karneval zu vergleichen, soviel Ungereimtes, so grosse Maskeraden, Fiktionen und Täuschungen gehen vor sich: Wir spielen Gesellschaft, und das Fatale ist, dass man zu dem wird, was man spielt.

In diesem Bühnenstück gelten gleichzeitig derart strenge Spielregeln und Gesetze, herrschen unerbittlich und allgegenwärtig Konventionen und Institutionen, Zwänge und "soziale Kontrollen", dass die Gesellschaft geradezu einem Gefängnis zu ähneln scheint.

 

Breit malt dies der aus Wien nach New York emigrierte, auf Religionssoziologie spezialisierte Peter Berger aus, betont aber, dass die Möglichkeit des Wandels und der Auflehnung gegeben ist. Meist aber unterliegt in diesem uralten Wechselspiel zwischen Dynamik und Statik, Gebundenheit und Freiheit die letztere: "der unverrückbare Fels der menschlichen Dummheit" versperrt Kenntnisnahme, Verständnis und Verständigung.

 

Wenig erbaulich – aber versöhnlich

 

Das sind wenig erbauliche Ergebnisse einer noch jungen Forschung, die das Erbe der Psychologie, Sigmund Freuds, übernommen hat, den Menschen über sich selbst und sein Leben in der Gesellschaft aufzuklären. Wenn das aber trotz allen Sarkasmus' nachdrücklich versöhnlich geschieht, lässt man es sich gerne gefallen.

 

Auch wenn etwas zusehr verallgemeinert wird - die Resultate sind bisher nicht so eindeutig, sondern oft widersprüchlich, und zudem kann die Wissenschaft weder das Gute noch die Freiheit fassen - und die Desillusionierung, ja Beklemmung durch das abfallende, "humanistisch" ausgerichtete letzte Drittel nicht aufgehoben wird, bietet das Buch eine ausgezeichnete, fast unmerklich eine Fülle wichtiger Aussagen hintupfende Einführung in die Problematik der menschlicher Beziehungen und deren Entstehung, Motivierung und Kanalisierung.

Es wurde zu Recht in neun Sprachen übersetzt.

 

Erschienen in den Basler Nachrichten, 15. Juli 1970

 



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