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Das beeindruckendste Phänomen in der Menschheitsgeschichte ist die Diskrepanz zwischen Politik und Ethik.

 

Sittliche Ordnung - Kämpfe und Umwälzungen

 

James Henry Breasted, der amerikanische Historiker und Ägyptologe) erzählt uns beispielsweise, mit der Einigung des ober- und unterägyptischen Reiches vor etwa 5000 Jahren sei die Vorstellung einer sittlichen Ordnung (Maat) aufgetaucht, die als "Rechtschaffenheit, Gerechtigkeit und Wahrheit" gefasst werden könne. Und was lesen wir im "dtv-Atlas zur Weltgeschichte"? "In dieser Epoche isoliert sich der Staat anderen Völkern gegenüber, fremde Einflüsse werden beseitigt, die Beduinen auf der Sinai-Halbinsel bekämpft (Gewinn der Kupferminen). - Fahrten nach Byblos (Zedernholz); Vorstösse nach Nubien... 6.Dynastie: Mit der Ohnmacht der Pharaonen wächst die Macht der Feudalherren. Soziale Umwälzungen beschleunigen den Zusammenbruch des Einheitsstaates (der Süden macht sich selbständig). Die Kämpfe unter den lokalen Feudalherren fördern die zunehmende Rechtsunsicherheit; Aufstände, Zerstörung der Gräber."

 

Ein anderes Beispiel: "4. Juli 1776 Unabhängigkeitserklärung der 13 Vereinigten Staaten: für die USA richtungweisende, erste Formulierung der Menschenrechte (‚life, liberty and the pursuit of happyness’) und des aus ihnen abgeleiteten politischen Widerstandsrechts ... 1776 Britische Niederlagen am Delaware bei Trenton und Princeton. Nachschubschwierigkeiten, Unkenntnis des Landes und die ungewohnte Guerilla-Taktik der Siedler erschweren den Kampf. 1777 amerikanischer Erfolg bei Saratoga ... Aristokratische Freiwillige kämpfen unter Washington. Die absolutistischen Mächte Frankreich und Spanien greifen 1778 als ‚Geburtshelfer der amerikanischen Republik’ gegen England ein: 1779-82 vergebliche Belagerung von Gibraltar, aber Eroberung von Menorca durch Spanien; britische Seesiege in Westindien bei St. Vincent 1781 und St. Domingo 1782 ... Die Briten strecken nach der (1781) Eroberung von Yorktown durch die Amerikaner die Waffen (unter den 7200 Gefangenen befindet sich auch Gneisenau).

 

1783 Friede von Versailles: ... Bedeutung für Frankreich: neue Kriegsschulden belasten die zerrütteten Staatsfinanzen; die französischen Freiwilligen werden als Freiheitskämpfer gefeiert, die Kritik am Ancien régime wächst.

Bedeutung für Nordamerika: nach schweren Opfern (70 000 Gefallene) ist die äussere Unabhängigkeit erreicht worden, die 'Loyalists' wandern nach Ober-Kanada aus. 1801-1809 Thomas Jefferson ...: Energien und Interessen der Nation richten sich auf 'The Winning of the West', die Ausdehnung nach Westen durch Binnensiedlung und Einwanderung aus West-, Mittel- und Nordeuropa ... Die theoretisch gleichberechtigten Indianer werden bekämpft. Sie reagieren mit grausamen Überfällen ... 1809-17 Präsident James Madison lässt sich zur Eroberung Kanadas zum (2. Unabhängigkeits-) Krieg mit Grossbritannien verleiten, kann aber britische Küstenüberfälle und die Zerstörung Washingtons nicht verhindern."

 

Trotz Friedensbemühungen Millionen von Toten

 

Kommentar? - Es hat einmal jemand ausgerechnet, dass es in knapp 4000 Jahren Geschichte etwas mehr als 300 "reine Friedensjahre" und 8250 Friedensschlüsse gegeben habe. Diese Friedensjahre haben kaum seit 1650 stattgefunden.

 

Trotz Bertha von Suttner, Andrew Carnegie, der II. Internationale und den Haager Friedenskonferenzen kam es zum Ersten Weltkrieg (10 Millionen Tote), trotz Völkerbund, Kellog-Pakt und Abrüstungskonferenzen sowie Neutralitäts-, Friedens-, Nichtangriffs- und Freundschaftsverträgen zum Zweiten Weltkrieg (55 Millionen Tote), trotz Gandhi, den "vier Freiheiten" F. D. Roosevelts und der UNO zum "Jahrhundert der Flüchtlinge" (dtv-Atlas) und zum Korea- und Indochinakrieg.

 

Zwei Ebenen: Individuum und Gemeinschaft

 

Es sieht zunächst aus, als spiele sich alles auf zwei Ebenen ab, auf einer des Individuellen und einer des Politischen: Die Mosaischen Gebote gelten nur für den einzelnen, die Menschenrechte für den Staat.

Doch auf beiden Ebenen klappt die Sache nicht: Auf der einen wird gestohlen, gelogen und Ehebruch gepflogen, auf der andern werden die elementaren Rechte mit den Füssen getreten; da wird gefangen und gefoltert, vertrieben und getötet. Irgendwie überschneiden sich jedoch die beiden Ebenen: Gelogen wird auch in der Politik, getötet auch vom einzelnen; politische und wirtschaftliche Verträge und Abkommen werden gebrochen, und in Familie, Schule und Betrieb wird die Freiheit beschnitten, der einzelne vom andern unterdrückt und gequält.

 

Die beiden Ebenen können also gar nicht unterschieden werden: Die "sittliche Weltordnung" wird im Kleinen wie Grossen ständig aufgeknackt und angefressen. Man spricht oft von "zwei Wahrheiten" und "zwei Moralen" und zielt damit auf die Doppelzüngigkeit von Priestern und Politikern, von Eltern und Lehrern, von Arbeitgebern und Arbeitnehmern.

Gibt es denn eine Moral für den Sonntag und eine andere für den Werktag, eine für den engsten Kreis und eine andere für die "grosse Gesellschaft" und die Weltpolitik? Weshalb ist Töten im bewaffneten Konflikt erlaubt und wird Landesverrat mit dem Tode bestraft? Woher rührt der Unterschied zwischen legalen und illegalen Schwangerschaftsabbrüchen, zwischen Kavaliersdelikten im Strassenverkehr und vorsätzlicher Tötung?

 

„Erlaubt ist, was gefällt“

 

"Erlaubt ist, was gefällt", wusste schon Goethes Tasso. Zwischen gefallen und geziemen ist jedoch ein beträchtlicher Unterschied. Ob "edle Frauen" wohl wissen, was sich ziemt? Auch das Frauenstimmrecht hat die Welt nicht glücklicher gemacht - ja nicht einmal das Ansehen der Frau nachhaltig gehoben.

 

Warum "gefällt" denn Intrigieren, Wegnehmen und Drangsalieren; was bietet das Laster denn für Anreize? Worin liegt die Verlockung, sich im Sündenpfuhl zu aalen, sich auf Kosten anderer zu bereichern und sie zu schikanieren? Warum ist die Welt "heillos", auch wenn die Kirche Heil predigt und Staatsmänner um das Heil ihres Landes und Volkes besorgt sind? Wer nicht spürt, dass sich hier Abgründe des Menschlichen auftun, dem ist nicht zu helfen. Dem aber, dem Welt und Mensch am Herzen liegen, bringen diese Fragen Pein.

 

"Motor der Geschichte": die Diskrepanz zwischen Wort und Tat

 

Was haben uns doch die ersten Hochkulturen sowie die griechischrömische und jüdisch-christliche Kultur für ein Erbe hinterlassen. Ordnung und Moral, das waren ihre Pfeiler - sie sind es heute noch.

Doch kaum errichtet, brachen sie stets zusammen. Weder "Lebensweisheiten" noch organisatorischen Massnahmen war eine längere Lebensdauer beschieden. Dem Aufschwung folgte der Zerfall auf dem Fuss.

 

Müsste man nicht dieses Erbe der Menschheit bedenken, sich ständig vor Augen halten? Es nähme einem alle Illusionen. Weltgeschichte wäre so etwas wie eine Pathographie der Menschheit, eine Analyse der Reformen und ihres Scheiterns.

 

Die Feststellung ist nicht zu umgehen, dass der Mensch in die Spannung von Wollen und Können unentrinnbar eingeflochten ist. Kann man sogar so weit gehen und die Diskrepanz zwischen Wort und Tat als den "Motor der Geschichte" auffassen? Das ist wohl unumgänglich. Das Wechselspiel von Sitte und Sünde, Recht und Rechtsbrechung, Krieg und Frieden hat die Welt in kulturelle Höhen und tiefste Bedrängnis geführt. Es ist doch seltsam: Je drastischer die Verhaltensvorschriften, desto grösser das Verlangen zum Ausbrechen, je grösser der Wohlstand, desto grösser der Drang zur Zerstörung, je mächtiger die Einflussmöglichkeiten, desto grösser die Tendenz zu ihrem Missbrauch. Liegt das etwa daran, dass diese Erscheinungen in Sektoren aufgeteilt sind?

 

Sekten versuchen, rigorosen Geboten nachzuleben, und "die andern" bleiben davon unberührt; die Moral der Bürger ist eine andere als die der Parias oder des Adels oder Klerus. "Was dem einen sin Ul, ist dem andern sin Nachtigall" oder "Quod licet Jovi, non licet bovi"? Die Sache ist wie verhext.

 

Das ganze Problem dreht sich vermutlich um die Frage des Geltungsbereichs. Eine der grundlegendsten Feststellungen, die man diesbezüglich machen kann, lautet dahin, dass diese Geltung schön säuberlich nach dem eigenen Vorteil in Anspruch genommen oder im Falle eines Nachteils ausgeklammert wird. Für wen sind denn Menschenrechte und demokratische Grundsätze, Freiheiten und Pflichten verbindlich? Für die eigene Seite oder "die andern"? Wer teilt eigentlich die Menschen so säuberlich in Grüppchen auf: Sünder und Fromme, Gute und Böse, Freund und Feind, "Edle" und "Untermenschen", Intellektuelle oder Zivilisierte und Primitive, Linke, Rechte und "schweigende Mehrheit"? Die Journalisten oder "die Führungsspitze"? Ja, wer macht denn überhaupt die Meinungen?

 

Der Bürger steht unter Meinungsterror

 

Bis zum heutigen Tag ist es der Publizistikwissenschaft und Kommunikationsforschung nicht gelungen, spezifische Einflüsse der Massenmedien mit Sicherheit nachzuweisen. Man kennt zwar die Bedeutung von Radio und Presse für Hitler, Goebbels und Mussolini, doch die Fäden wurden anderswo gezogen; in politischen Versammlungen, Volksaufmärschen, HJ und BDM, in Universitäten auch und Kirchen. Überall lauerte der Meinungsterror.

 

Heute sind wir etwas subtiler geworden. Das meinen wir wenigstens. Agitation und Propaganda glauben wir ausweichen zu können; "Öffentlichkeitsarbeit" und Werbung sind aber im Grunde nichts anderes. Den meisten Platz in den Zeitungen nehmen Regierungsbotschaften und die Berichterstattung über Parlamentsdebatten ein: eine feine, dauernde Berieselung von staatserhaltenden Maximen und Überlegungen, die sich bei näherem Zusehen allerdings als völlig flau und nichtssagend herausstellen und wenig über Neujahrs- und Festansprachen hinausgehen. Zuviel Rücksichten (wie human!) sind auf Interessenvertretungen und die Wiederwahl zu nehmen ...

 

Ob es diese einschläfernde Litanei ist, die "das Volk" braucht, die beruhigende Gewissheit, dass "die da oben" sich redlich um sein Wohl bemühen? Wäre doch das "Fussvolk" nur etwas offener und kritischer! Weil dem aber nicht so ist, machen sich eben Opposition und Revolte in kleinen Grüppchen geltend. Der Schuss geht aber hinten hinaus: Die Herausforderung wird abgewehrt, niedergeknüppelt.

 

Not täte eine "Philosophie der Fragen"

 

Der Bürger müsste lernen, dass ein Wechselspiel von Beruhigung und Verunsicherung fruchtbar sein kann. Er hat bislang viel zu viele Antworten - und seien sie noch so blass und unbeholfen - erhalten; not täte eine "Philosophie der Fragen". Es hat bis heute nie "Ruhe" in der Weltgeschichte gegeben; wir sind aus dem Paradies vertrieben. Akzeptierte man einmal diesen Sachverhalt, so böte sich die Gelgenheit, in steter kritischer Besinnung die Verhältnisse zu durchdringen und die Dynamik des Kräftespiels zum Aufbau zu nutzen. Was man nicht umgehen kann, muss man gewissermassen bei den Hörnern packen, um das Beste herauszuschütteln.

 

Was können wir aus der Geschichte lernen?

Erstens, dass sich Systeme ändern mögen, der Mensch aber sich gleich bleibt - auch wenn er heute meist Besteck zum Essen, eine Serviette für das Abwischen der Lippen und ein Taschentuch zum Schneuzen benützt.

Zweitens, dass der Mensch aus der Geschichte nichts lernt, nicht einmal gelernt hat, dass das Wissen um etwas - zu lösende Probleme, Verwirklichungsmöglichkeiten oder Gefahren - noch lange nicht zum Handeln führt.

Kurz: Der Mensch bleibt ein gefallener Engel und ist in die Klauen dämonischer Mächte geraten, die unablässig eine Wand zwischen seine Vorsätze und Versprechen schieben, auf dass diese nicht in die Tat umgesetzt werden.

 

Der Mensch kann sich nur in der Gemeinschaft entfalten

 

Der Rechtssoziologe Theodor Geiger untersuchte nach dem Zweiten Weltkrieg das Verhältnis von rechtlichen und ausserrechtlichen "Ordnungsgefügen" zur sozialen Wirklichkeit, indem er davon ausging, dass Gemeinschaftsleben (Geselligkeit, "soziale Interdependenz") und Ordnung - er nennt das "Gebarens-Koordination", Max Weber spricht von "sinnhaft orientiertem Verhalten" - einander bedingen; der Mensch kann sich nur in der Sozietät entfalten.

Gebarensmuster wie Brauch, Sitte (Konvention) und Zeremoniell finden wir bei allen, Sittenregel, Satzung oder Recht nur bei verhältnismässig hochentwickelten, also "zivilisierten" Gesellschaftsformen. Geiger fasste nun das Recht als "Veräusserlichung von Ordnungserscheinungen" und stellte ihm die Moral als Produkt einer "Verinnerlichung" oder "Spiritualisierung" von solchen gegenüber. In "archaischen" oder "primitiven" Gesellschaften sind beide noch beieinander, in entwickelteren polarisieren sie sich in: Muss und Soll, Vorschrift und Gewissen, soziale Koordination als oberste Notwendigkeit und das Gute als oberster Wert, oder schärfer: Bürgerpflicht und innere Verpflichtung.

 

Nun sind Recht und Moral, ja schon Sitte, in enger Verknüpfung mit Macht und Kontrolle zu sehen. Besteht bei der Sitte und bei Spielregeln ein sozialer Druck, eine spontane "Sanktion" des Normverstosses durch einzelne andere - jedoch kollektiv, d. h. durch die "öffentliche Meinung" überlagert -, so beim Recht eine durch Institutionalisierung unpersönlich gewordene Sanktion, ein organisierter Zwang.

 

Was schafft diese Monopolisierung der rechtlichen Sanktion durch eine Instanz? Freiheit! Nämlich die Freiheit von Rechtsnachteilen in drei Fällen:

1. bei Befolgung der Norm;

2. wenn die Norm nicht auf die Situation zutrifft, also einen andern Geltungsbereich, d. h. durch die Urteilspraxis festgelegten Verbindlichkeitsumfang, hat; und

3. wenn das, was verlangt wird, gar keine Norm, sondern nur Brauch oder Sitte ist.

 

Freiheit ist damit nach Geiger "der Inbegriff der Möglichkeiten sozial risikoloser Dispositionen im Lebensvollzug", und "das Sanktions-Tabu für die Instanz ist die Norm der Freiheitsgarantie".

 

In der Praxis: Übergriffe und Unterlassungen

 

Das klingt recht schön, um nicht zu sagen idyllisch. Wie steht es aber in der Praxis? Übergriffe kommen vor (z. B. Präventivhaft), ebenso wie Unterlassungen (Unterlassung oder Einstellung der Strafverfolgung; Regelung von Konflikten, vor allem finanzieller und wirtschaftlicher Art, unter Umgehung des Rechtsweges), was dann in auflüpferischen Bemerkungen über "Repression" Luft macht, oder umgekehrt: "Die Kleinen hängt man, und die Grossen lässt man laufen".

Wenn gar das Recht durch Kriegs- oder Notstandsrecht ersetzt wird, ist der Willkür schliesslich Tür und Tor geöffnet. Die Zentralmacht, d. h. der Herrschaftsapparat, in dessen Händen sich das Verhängungs- und Vollstreckungsmonopol befindet, kann, indem er die rechtliche Sanktions-Norm (das sind die Regeln, nach denen auch er die Macht auszuüben hat, z. B. die Verfassung) ausser Kraft setzt, nach Belieben schalten und walten.

Manchmal hat man das Gefühl, das geschehe auch bei uns, man denke nur an das Gezänk um Strafvollzug, Pornographie, Homosexualität und Dienstverweigerer, Verführung Minderjähriger, Konkubinat und Abtreibung, wo "schreiende Ungerechtigkeiten" recht häufig vorkommen.

 

Wer nimmt die „sittliche Vernunft“ ernst?

 

Gut, über das Recht lässt sich rechten. Wie steht es denn mit der Moral? Der umfangreiche Katalog "Buch 71" erwähnt keine einzige grundlegende Schrift zum Thema "Recht und Moral" oder "Staat und Kirche". Dabei ist trotz der Polarisierung deren Zusammenhang offensichtlich. Die Philosophen behaupten etwa, in beiden trete die "sittliche Vernunft" zutage, "die sich selbst - in dialektischer Weise - in den objektiven und in den subjektiven Geist - oder in die objektive Sittlichkeit und die Moral - 'auseinanderlegt' und in der Unterscheidung dieser ihrer Momente (die sich freilich im einzelnen Individuum zum Gegensatz und bis zum tragischen Konflikt steigern kann) im Grunde eine ist" (J. Hoffmeister, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, 1955, 513).

 

Das mit der "sittlichen Vernunft" scheint einleuchtend: Sie bestimmt Rechtsgesinnung - das "Rechtsgefühl" wird von der Psychologie untersucht - und Gewissen. Wenn das so einfach wäre. Recht tun und und Gutes tun sind grosse Aufgaben, doch wer nimmt das genügend ernst? Sind das nur die Streber und Eiferer, die Biedermänner und Säulenheiligen?

Also müssen Psychologie und Psychiatrie her. Sie sollen uns zeigen, wo bei den verklemmten Moralisten und den machtgierigen Ellböglern der Hase im Pfeffer sitzt. "Motivation" heisst hier das Zauberwort, und damit geraten wir in die Sümpfe der Triebregungen und Interessen, von Anlage und Milieu. Biologische und seelische Grundlagen des Bösen werden ausgebeinelt, und man stösst auf schlechtes Erbgut (Lombroso, Lange, Stumpfl) und Krankheiten sowie auf Frustrationen (Dollard, Miller), Angst, zerrüttete Familienverhältnisse und Verführungen, so dass von der vielgepriesenen "Freiheit des Willens" nicht mehr viel übrig bleibt.

 

Jeder möchte seine Schäfchen ins Trocken bringen

 

Und wenn dann rundherum Kriege und Gewalttaten sich häufen, in Wort und Bild täglich plastisch vorgeführt werden, wenn Streitigkeiten über Zurechnungsfähigkeit und Rechtsprechung, Autorität und Monopole sich häufen, wen wundert’s da noch, wenn männiglich Moral Moral sein lässt und sich scharf am Rande der Legitimität vorzuarbeiten beginnt, auf dass er sich ein Plätzchen an der Sonne erobere. Hauptsache, jeder bringt seine Schäfchen ins Trockene. Da mögen der Papst oder der Bundesanwalt noch so wettern, UNO und Europarat noch so mit Deklarationen und Protestresolutionen winken; man fragt nicht danach, sondern tut, was nützt, auch wenn es im Endeffekt zum eigenen Schaden gereicht. Doch das weiss man ja im Moment noch nicht.

 

So lange kämpft man sich die Erfolgsleiter hoch, verordnet Verhaftungen und Bombardements und lässt den Bedürftigen am Wegrand liegen - "Wahrhaftigkeit, Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit" stehen nicht hoch im Kurs.

 

"Gesinnung", was ist denn das? Pazifisten und solche, die auf Gott oder die Rechtsordnung vertrauen, ermangeln jedenfalls einer "realistischen Betrachtung" der Weltlage.

 

Fragen gehört zur „Würde des Menschen“

 

Doch "trotz allem" dürfte man sich von dieser Frag-Würdigkeit - und Fragen gehört zur "Würde des Menschen" - nicht ins Bockshorn jagen lassen: Wie dieselbe Weltgeschichte zeigt, ist das Auf und Ab unvermeidlich, der Konflikt von Politik und Ethik, Nichtwollen und Nichtkönnen ein sich ins Immerwährende fortzeugender Prozess, der die Welt in Atem und damit am Leben erhält. Das mag bedauerlich sein, es dispensiert aber niemanden davon, bei sich selbst anzufangen mit der Besinnung und einer Wachsamkeit sich selbst und "hohen Tieren" gegenüber.

 

Was auch in einer Welt der Niedertracht und Brutalität, von Lug und Trug zählt, ist im letzten immer der einzelne - Gegenbeispiele und "schlechte Erfahrungen", Berufung auf Psychologie und Psychiatrie oder Soziologie und Theologie hin oder her.

 

(geschrieben im Januar 1972)

 



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