Home Gibt es eine Ur-Methode?

 

                     Eine Skizze, ca. 1987

 

 

Vor genau 200 Jahren [1787] erfand Goethe bei seinen naturwissenschaftlichen Studien im botanischen Garten von Palermo die Urpflanze.

"Die Urpflanze wird das wunderlichste Geschöpf von der Welt, um welches mich die Natur selbst beneiden soll", schrieb er Herder. "Mit diesem Modell und dem Schlüssel dazu kann man alsdann noch Pflanzen ins Unendliche erfinden, die konsequent sein müssen, das heisst: die, wenn sie auch nicht existieren, doch existieren könnten und ... eine innerliche Wahrheit und Notwendigkeit haben. Dasselbe Gesetz wird sich auf alles übrige Lebendige anwenden lassen."

 

Gibt es ein solches grundlegendes Modell auch für die Methoden? Gibt es eine Grundmethode, die sich auf alle menschlichen Handlungen anwenden lässt?

 

 

Seit 1500: die “einzige Methode“ als Idee

 

Die Idee einer "einzigen Methode" taucht am Anfang der Neuzeit auf. Petrus Ramus (1543) beschrieb sie als

·        das Vorgehen vom generellen und bekannteren Ganzen zum speziellen und weniger bekannteren Teil.

 

Daneben wurden freilich gerade im 16. Jahrhundert zahlreiche spezielle Methoden diskutiert, etwa die historische, juristische und pädagogische. Auch in vielen damals im Entstehen begriffenen Wissenschaften wie Psychologie, Physik oder Medizin nahm die Methode einen zunehmend grösseren Platz ein.

Das 17. Jahrhundert kann dann als eigentliches "Jahrhundert der Methoden" bezeichnet werden. Auf unterschiedliche Weise suchten Bacon und Descartes, Spinoza und Leibniz nach der "einen" Methode, vorab im Bereich der Erkenntnis, der Logik oder Wissenschaft.

 

Diese eher kopflastigen Bestrebungen fanden ihr Gegengewicht einerseits in den Untersuchungen über die menschlichen Begabungen - ingenium, ésprit, Genie, wit - seit Vives (1531) und Huarte (1575) sowie den italienischen und spanischen Literaturtheoretikern, anderseits in den Beschreibungen der Künste, Handwerke und Manufakturen, was seit 1615 unter dem Namen "technology" läuft und z. B. um 1770 in Deutschland als Fachgebiet Technologie an den Hochschulen institutionalisiert wurde. Die Verbindung wurde von der Betrachtung einerseits der Erfindung oder Findekunst - inventio, heuresis -, anderseits der Anschauung oder Einbildungskraft - intuitio, phantasia, imaginatio - geleistet.

 

 

Die verwirrende Fülle der Methoden

 

Die Vielfalt der Ansätze ist erstaunlich. Theoretiker und Sachkundige, Dichter und Forscher, Juristen und Pädagogen haben seit etwa 1500 dem schöpferischen und logischen Vermögen des Menschen nachgespürt. Doch kann man die seelischen und geistigen Kräfte überhaupt unter einen Hut bringen? Können etwa Wissenschaft und Kunst, Technik und Politik, Religion und Philosophie überhaupt auf dieselbe Weise angegangen werden - und umgekehrt: Gibt es nur eine einzige Methode, nach der sie sich richten können oder sollen?

 

Die heutige Zeit droht, sich in einem Urwald von Methoden zu verlieren: Die Wissenschaften selber haben sich in immer mehr Fachgebiete aufgespalten, und in jedem Gebiet werden immer mehr und ausgeklügeltere Methoden angewandt. Aber auch alle andern Tätigkeiten, ja sämtliche Lebensbereiche des Menschen sind von Methoden geradezu verseucht, vom Autofahren über die Bildschirmarbeit bis zur Produktionssteuerung und Führung in Wirtschaft und Politik, im Sozial- und Gesundheitswesen.

 

Der Grund für die verwirrende Fülle der Methoden liegt darin, dass Methode ja der Weg zu einem Ziel ist. Will man unterschiedliche Ziele erreichen, muss man je andere Wege beschreiten. Aber wenn man beim Bild des Weges (griechisch "hodos", von daher: met-hodos, das Nachgehen dem Wege) bleibt, zeigt sich: Die Ziele sind ja nur geographisch verschieden. Egal, in welche Richtung wir gehen oder in welche Höhe wir klettern, die Aufgaben bleiben sich gleich, nämlich:

·        das Gehen, allgemeiner: die Fortbewegung, das Tun,

·        die Verwendung von Mitteln wie Ausrüstung, Instrumente, Ressourcen,

·        das Auffinden des besten oder richtigen Weges und die Vergewisserung, ob man noch darauf ist

·        das Einteilen des Weges resp. der Aufgaben und des dazu notwendigen Kräfteeinsatzes

·        die Beachtung besonderer Umstände und Ereignisse.

 

 

Welches sind die wichtigen Ziele?

 

Das wird heute ganz allgemein als Massnahmenplanung, Budgetierung und Kontrolle gefasst - sofern das Ziel bekannt ist.

Nun kann man aber auch die Ziele selber ins Auge fassen: Warum will ich dahin und nicht dorthin? Ist es wichtiger oder dringlicher, nach A oder nach B zu gelangen? Zielsetzung und Prioritätenfestlegung ist mithin ebenfalls vonnöten.

 

Übersetzt man das Bild von Weg und Ziel, Aufgaben und Mitteln ins Abstrakte, so ergibt sich, dass der Mensch

·        mehrere Ziele zur gleichen Zeit anstrebt,

·        einander ausschliessende Ziele erreichen möchte,

·        Ziele und Prioritäten ändern kann,

·        gar nicht willens ist, sich anzustrengen oder

·        untaugliche Mittel verwendet.

 

Mit einem Hammer kann man keine Ferien planen, mit einer Säge keine Nägel einschlagen. Und "Nägel mit Köpfen machen" ist häufig eine blosse Redensart. Der stramme Manager versteckt dahinter seine eigene Unsicherheit oder Entschlussschwäche. Und welches sind nun die wichtigen Ziele, die es unbedingt zu erreichen gilt?

 

Gibt es, wie beim Weg, Gemeinsamkeiten für alle Ziele, individuelle wie Unternehmensziele, politische wie künstlerische Ziele? Diese Frage führt rasch in die Psychologie und Philosophie. Erstere kann etwa bei den Bedürfnissen des Menschen ansetzen, letztere beim Sinn des Lebens und Wirtschaftens, von Kunst und Staat, Wissenschaft und Kirche.

 

Auf der einen Seite ergeben sich als Gemeinsamkeiten etwa

·        Überleben,

·        Wohlergehen,

·        Entfaltung und

·        Handlungserfolg.

auf der andern Seite z. B.

·        Werk,

·        Macht,

·        Besitz,

·        Erkenntnis.

 

Steht die zweite Gruppe zur ersten in einem Mittel-Zweck-Verhältnis?

 

Was ist blosser Selbstzweck, was ein absolutes Ziel? Wer soll oder will überleben: der einzelne, ein Unternehmen, eine Institution, ein System? Und wozu?

 

 

Die „egoistischen Gene“ schaffen sich „Überlebensmaschinen“

 

Die Biologen haben eine sonderbare Erscheinung entdeckt: die "Evolution". Sie besteht im Fortgang des Lebens auf dieser Erde. Grundlage dafür sind die Gene, die sich selber durch den Lauf der Geschichte fortzeugen (replizieren). Variationen führen zu Änderungen die, wenn sie erfolgreich sind, andere Gene verdrängen.

 

Eine besondere Art von Änderung ist der Zusammenschluss von Genen. Dadurch verbessern sich die Überlebenschancen der einzelnen Gene. Zudem können sie sich, als Gruppen, sogenannte "Überlebensmaschinen" (Richard Dawkins, 1976; dt. 1978) konstruieren: die Organismen. Auch der Mensch wäre demnach nur eine solche schützende Hülle, welche den Genen Fortpflanzungserfolg bietet.

 

Eine weitere Änderung der "egoistischen Gene" führte zur Sexualität. Durch Umwelteinflüsse erfolgen Variationen des Erbmaterials zufällig; sie tragen daher ein hohes Fehlerrisiko, und die Evolution verläuft sehr langsam. Die Sexualität, bei welcher die Gene nicht verändert, sondern nur neu kombiniert werden, führt dagegen zu einer enormen Zahl von Variationen bei niedriger Fehlerrate. Die Evolution beschleunigt sich.

 

Eine dritte Art von Änderung trägt nochmals zu einer Beschleunigung bei: Die Herausbildung von Nervensystem und Gehirn. Damit treten die Gene einen Teil ihrer "Informationsverarbeitung" an schneller arbeitende Systeme ab und geben ihren sterblichen Hüllen die Möglichkeit der Vorausschau auf neue Umweltbedingungen, an deren Schaffung sie ja selber mitbeteiligt sind.

 

 

Auch der Mensch schafft sich „Überlebensmaschinen“

 

Nun kann man dieses egoistische Spiel auf der Ebene der Menschheit weiter treiben. Das :tat vor allem die "kulturhistorische Schule" der sowjetischen Psychologie (z. B. A. N. Leontjew, 1959, dt. 1964) und die daran anknüpfende "Kritische Psychologie". Bis zum Neandertaler, der vor 30 000 Jahren ausgestorben ist, war der Mensch biologisch bestimmt. Seither, besonders seit er sesshaft wurde und Landwirtschaft betrieb, produziert er seine Lebensmittel und -bedingungen selber. "Die Dominanz der Phylogenese schlägt um in die Dominanz des gesellschaftlich-historischen Prozesses", formuliert Klaus Holzkamp in seiner umfangreichen "Grundlegung der Psychologie" (1983). Und er meint: "Gesellschaftlichkeit ist gar nicht primär eine neue Entwicklungsstufe des Psychischen, sondern eine neue Entwicklungsstufe des Gesamtprozesses der Lebensgewinnung."

 

Wie die Gene, so könnte man sagen, schafft sich also auf höherer Stufe auch der Mensch "Überlebensmaschinen", die sog. Institution. (Nicht von ungefähr trägt daher ein Band der imposanten Reihe "Herderbücherei. Initiative" den Titel: "Die Gehäuse des Menschen", 1975.)

 

Die Sexualität wird ergänzt durch Arbeitsteilung und Kooperation; die systematische Werkzeugherstellung und Anwendung von Methoden bietet - analog zum Gehirn - Beschleunigung der Arbeit, Entlastung und Erleichterung. Die Gefahr bei letzterem ist dieselbe wie bei den "Genen": Haben diese durch die Konstruktion des Zentralnervensystems diesem die Entscheidung über ihr Fortbestehen weitgehend übertragen, so können auch Maschinen, Computer, Roboter und Netzwerke dem Menschen das Heft weitgehend aus den Händen reissen.

 

Nochmals eine Stufe höher kann das Spiel auf der Ebene der Institutionen wiederholt werden. Durch Verbände, Verträge und Frühwarnsysteme betrieblicher oder militärischer Art versuchen sie, ihr Überleben zu sichern.

 

Egal auf welcher Stufe, das Überleben erfordert in dieser biologisch-historischen Perspektive etwas Paradoxes: Stabilität unter ungünstiger Einflüssen und Stabilität der Replikation oder Reproduktion einerseits, Variation des Vorhandenen zwecks Erfolg unter veränderten Bedingungen und zur Erzielung von Fortschritt anderseits.

 

Das ist nichts anderes als die Verschränkung von Dauer und Wandel, welche die Menschen seit Jahrtausenden bewegt. Voraussetzung dafür sind freilich Annahmen, z. B. dass Überleben notwendig ist, dass es Evolution gibt, dass Fortschritt sein soll.

 

 

Die Ur-Methode: Entfaltung durch Anpassung

 

Wer diese Annahmen vorerst einmal in Frage stellt, kann beim Wohlbefinden ansetzen. Schon einfache Organismen (z. B. das einzellige Pantoffeltierchen) suchen sich ein zuträgliches Milieu und meiden bedrohliche oder gefährliche Zonen (phobische Reaktion). Ihr Verhalten ist z. T. "automatisch" bestimmt (Stoff- und Energiewechsel, Formwechsel und Bewegungen, Fortpflanzung), z. T. aber schon eine Reaktion auf äussere Reize (anderes Milieu, Hindernisse, Angreifer) und innere "Stimmungen" (wechselnde physiologische Zustände).

Doch wenn sich auch die angenehme Umgebung ändert, ist eine Anpassung vonnöten, sei es durch innere oder äussere Verhärtung, durch eigene, aktive Ein- oder Angriffe oder durch Ortswechsel, Flucht. Das "stille Glück im Winkel", von dem schon die Epikuräer träumten, ist auch dem Menschen selten beschieden. Resignation und Ressentiment sind ebensolche Anpassungsmechanismen wie Rebellion und Revolution. Immer aber steht dahinter der Wille zum Überleben.

Überdies verfügen komplexe Organismen über unzählige Verhaltensweisen und Erlebnisbereiche. Enttäuschung und Leid, Empörung und Entsetzen betrifft bei genauer Betrachtung selten den ganzen Menschen.

 

Anders ist es mit der Entfaltung. Dahinter steckt derselbe Gedanke wie bei der Evolution: Was lebt, "will" Erfolg. Das verlangt aber die Ausnützung auch geringster Vorteile, die sich bieten, oder die sich das Gen, der Organismus oder die Institution verschaffen kann.

 

Beides erfordert den Einsatz, und zwar den möglichst optimalen Einsatz dessen, was das "Strebende" aufweist. Dieser Einsatz bedeutet und ermöglicht zugleich Entfaltung, beim Menschen oft "Selbstverwirklichung“ genannt. Sie geschieht also nicht von selber. Sogar wenn man hofft, dass einem etwas in den Schoss falle, muss man ihn offen hinhalten.

 

Überleben ist aber nicht nur durch Kampf zu erreichen. Nur auf der Ebene der Gene findet ein "rigoroser Verdrängungswettbewerb um den Zugang zu Ressourcen" statt. Auf der Ebene komplexer Organismen oder Organisationen geht es um Anpassung, und diese muss nicht auf Kampf beruhen, denn Kampf kann Verletzung, dauernde Invalidität oder Tod bringen. Je nach Situation können alle nur denkbaren Verhaltensweisen von Vorteil sein: "Flucht oder Angriff, Ducken oder Imponieren, Totstellen oder hektische Aktivität, Tarnen oder Auf-sich-aufmerksam-Machen, Denken oder Handeln. Für jede dieser Strategien lassen sich Beispiele finden, wo gerade sie erfolgreich ist. Dass Flucht, Passivität oder ruhiges Nachdenken manchmal die bessere Überlebensstrategie sein kann, verdeutlicht, wie unangebracht die Bezeichnung 'Kampf' ums Überleben hier ist ... Die sozialdarwinistische Annahme, überleben werde stets der Kampfbereitere, Aggressivere", ist also bereits im Ansatz falsch, meinen die modernen Biologen (nach Heinz W. Kreuzig, 1985, 48).

 

 

Literatur

 

Richard Dawkins: The Selfish Gene. New York: Oxford University Press 1976; zahlreiche Aufl.; Jubiläumsausgabe Oxford: Oxford University Press 2006;
dt:: Das egoistische Gen. Berlin: Springer 1978; zahlreiche Aufl.; Jubiläumsausgabe
Heidelberg: Spektrum Akademie Verlag 2008.

Klaus Holzkamp: Grundlegung der Psychologie. Frankfurt am Main: Campus 1983; Studienausgabe 1985.

A. N. Leontjew: Probleme der Entwicklung des Psychischen. Berlin: VEB Verlag Volk und Wissen 1964 (aus. d. Russ, 1959).

 

 


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