Woher kommt die Forderung nach "ganzheitlichem Denken"?
Aus New Age, Öko- und Frauenbewegung
erschienen in der Schweizerischen Handelszeitung, 16. März 1989, S. 19.
siehe auch die Tabelle: „Ganzheitliches Denken“: Stichworte und Namen zur langen Vorgeschichte
Die meisten, die im Moment in die Forderung nach "ganzheitlichem Denken" einstimmen, haben keine Ahnung, woher sie kommt. Pauschal kann man sagen: aus dem New Age. Aber schon während der ebenso gigantischen wie kurzlebigen Umweltschutz-Welle von 1970-74 war sie aktuell. Feministinnen haben sich dann an diese Züglein angehängt. Alle diese Strömungen sind älter als man denkt. New Age wie Ganzheitsdenken wurzeln sogar im Altertum.
1962-1979: New Age
New Age zeigt sich uns im Rückblick als drei ganz verschiedene Strömungen in den 60er und 70er Jahren:
New Age war eine Gegenströmung zur Neuen Linken (in den USA: New Left oder Radicals) und wurde, da sie weniger laut und brutal war, kaum wahrgenommen. Einzig die parallel damit laufenden "neuen Jugendreligionen" oder -Sekten und der Drogengenuss machten in Europa seit Anfang der 70er Jahre Kirchen und Eltern schwer zu schaffen. Bald schwappte auch der Psycho-Boom über den grossen Teich zu uns und begeisterte die einen, verunsicherte die andern.
New Age kann man mit den Schlagworten orientalisch, spirituell und antichristlich bezeichnen. Je nachdem, wie tief man gräbt, liegen die Wurzeln in der "Theosophischen Gesellschaft" (gegr.1875), in der seit 1730 andauernden Esoterik-Welle oder in der Gnostik, einer Gegenbewegung zum Frühchristentum. Den New Agern selber war dies nicht bewusst. Ihr Einschweben in den kosmischen Strom von Energie und Erleuchtung war geschichtslos.
1980-85: Ausweitung des "New Age"-Begriffs
Wenn heute "New Age" hierzulande ein Modewort ist, so ist manches daran paradox: Erstens wurde in den 70er Jahren der Begriff in den USA nur für die "spirituellen Gemeinschaften" gebraucht. Zweitens waren diese um 1980 bereits am Verblühen. Drittens wurde der Begriff "New Age" erst populär, nachdem zwei dicke Bücher erschienen waren, in denen diese Gemeinschaften nur am Rande erwähnt wurden.
Marilyn Ferguson (1980; dt. 1982) beschrieb ja die "Wassermann-Verschwörung", Fritjof Capra (1982; dt. 1983) die "aufsteigende Kultur". Im Laufe der Promotionstourneen 1982-85 wurde aber allmählich alles, was sie ihren - weitgehend ähnlichen - Sammelsurien neuer Trends zusammengestellt hatten, als "New Age" bezeichnet. Die Theologen folgten dieser Unsitte mit besonderem Eifer.
Vier verschiedene Quellen "ganzheitlichen Denkens"
Nun deckt sich die aktuelle Forderung nach "ganzheitlichem Denken" keineswegs mit New Age. Wenn man die Fäden sorgfältig rückwärts verfolgt, führen sie in vier doppelte Ecken:
1. a) Von 1970-74 herrschte ein weltweiter Umweltschutz-Boom. Der Botanikprofessor Philippe Matile an einem ETH-Symposium 1973: "Das Modewort vom ganzheitlichen Denken bedeutet nichts weniger, als die Umkehrung der gewohnten Denkrichtung, bedeutet die Berücksichtigung von Realitäten, welche nicht auf die stofflichen Prozesse reduzierbar sind." In diesem Sinne waren damals auf Initiative von Prof. Hans Kern an der Abt. für Elektrotechnik Zusatzvorlesungen zu "Mensch-Technik-Umwelt" (MTU) eingeführt worden.
Die Natur- und Heimatschutzbewegungen waren damals schon 100 Jahre alt. Nun stimmten ihnen für kurze Zeit auch Liberale und Technokraten zu. Es war das grösste Strohfeuer aller Zeiten. (BSP und Personenwagenbestand haben sich in der Schweiz seit 1969 rund verdreifacht.)
1. b) Demgegenüber zeigte die "Gegenkultur" einen radikal andern Ansatz durch echte Verhaltensänderungen und praktisches Tun - wie "fragwürdig" das auch sein mochte. Am selben ETH-Symposium sprach auch E. F. Schumacher, der seit 1964 für "Intermediate Technology" und "Buddhist Economics" (1968) plädierte und dessen Buch "Small is Beautiful" (dt. erst 1977) soeben erschienen war. Mit "sanfter Technik" und "organischer Landwirtschaft" versuchten es damals auch zahlreiche Gruppen und Kommunen in den USA (z. B. "New Alchemy", 1969, Sunburst Community 1969, Green Gulch Farm 1971, Arcosanti 1968). Die massgeblichen Aussteiger-Handbücher waren der "Whole Earth Catalogue" (1968ff), später die "Ökotopia"-Vision Ernest Callenbachs (1975; dt. 1978) und Hazel Hendersons Studien (1978 u. 1981; dt.: "Das Ende der Ökonomie" 1985). Auf wenig Gegenliebe stiessen hierzulande z. B. der RIO-Bericht (1976; dt. 1977) und der NAWU-Report (1978).
2. a) Aus dem Unbehagen an der Kosten- und Technikexplosion im Gesundheitswesen einerseits, der immer weiteren Spezialisierung der Mediziner anderseits ergab sich seit 1974 die Bewegung der "holistic medicine". Unterstützt von neuen Methoden der Psychotherapie und Psychosomatik, insbesondere Humanistische Psychologie, Stress- und Krebsforschung, forderte man die Berücksichtigung oder Entfaltung des "ganzen Menschen".
2. b) Ähnlich gelagert waren die Bemühungen um eine religiöse oder spirituelle Erneuerung des Menschen. So sinierte Reimar Lenz dem "vergessenen Ganzen" (1974) nach, beschrieb Dorothee Sölle "den Wunsch, ganz zu sein" (1975) und erschien eine "Zeitschrift für ganzheitliches Leben".
3.a) Auch in den Naturwissenschaften verstanden sich zahlreiche Ansätze als ganzheitlich. Bereits 1957 hatte R. H. G. Siu einen 180seitigen "Essay on Western Knowledge and Eastern Wisdom" unter dem Titel "The Tao of Science" vorgelegt (Capra war also 1975 nur ein Epigone). 1962 stellte der Drogenpionier Aldous Huxley in seiner positiven Utopie "Island" (dt. 1973) eine Verbindung von östlicher Mystik, z. B. Buddhismus, mit westlicher Wissenschaft und alternativer Wirtschaft vor. Arthur Koestler entwickelte 1967 das Konzept des "Holon", das aber ohne Echo blieb.
3. b) In der Physik vertrat der Franzose Jean E. Charon schon in den 60er Jahren eine Einheitsvorstellung, David Bohm folgte später mit dem "Holomovement". Ebenso langsam setzten sich die Thesen von den "dissipativen Strukturen" des Brüsseler Chemikers Ilya Prigogine (seit 1967), die "Synergetik" des Laser-Spezialisten Hermann Haken (seit ca. 1970) oder die Theorie der "Autopoiesis" der Neurobiologen H. R. Maturana und F. J. Varela (1973) durch.
4. a) Weitgehend unabhängig von alledem entdeckten die Feministinnen seit 1971 die "matriarchale Spiritualität" wieder. Eine bestechend logisch rekonstruierte Darstellung bot Heide Göttner-Abendroth in ihrem Buch "Die Göttin und ihr Heros" (1980).
4. b) Dass die alten Mythen überhaupt ganzheitlich sind, versuchte der Theologieprofessor Ulrich Mann in seiner Zusammenstellung von "Schöpfungsmythen" (1982) darzulegen.
„Was wir brauchen, sind Veränderungen...“
Unterdessen hatten Feministinnen auch die Öko-Bewegung und New Age-Spiritualität (sowie den "Frieden") entdeckt. 1977 formulierte Susan Leigh Star "The Politics of Wholeness". 1980 forderten zwei Autorinnen in einem "Handbook for Women an the Nuclear Mentality": "Was wir brauchen, sind Veränderungen sowohl der Formen als auch der Inhalte, also ein Hervorbringen von Entwürfen, die Ganzheitlichkeit und nicht Abtrennen und Zerlegen bedeuten, die Harmonie zwischen Menschen und Natur fördern und nicht die Ausbeutung der Natur. Zur Zeit existieren diese Entwürfe in Bildern, Visionen und Phantasien der Feministinnen."
Im November 1980 verteilten die Frauen der "Women's Pentagon Action" an ihrem Happening in Washington, D. C., ein "Unity Statement", in dem sie auf die Zusammenhänge zwischen diversen ökonomischen Aspekten von Militarismus und Wettrüsten hinwiesen und abschliessend den "Grundsatz der ganzheitlichen Spiritualität" bekräftigten, dass alles Lebendige und die Erde selbst heilig sei (siehe Rüdiger Lutz, Ed.: "Frauen-Zukünfte" 1984).
Systemdenken als letzte Etappe des "klassischen" Ganzheitsdenkens
Diesen Hintergrund müsste kennen, wer heute die Forderung nach "ganzheitlichem Denken" nachplappert. Dies umso mehr, weil es auch ganz andere Auffassungen von Ganzheitlichkeit gibt.
Das seit dem Zweiten Weltkrieg entstandene Systemdenken verstand sich nämlich - in der Theorie - ebenfalls als "ganzheitlich". Über die Biokybernetik (z.B. Frederic Vester 1974) hat sich dieser Anspruch bis zum jüngsten Handbuch der St. Galler Ökonomen Hans Ulrich und Gilbert J. Probst durchgezogen ("Anleitung zum ganzheitlichen Denken und Handeln", 1988).
Dahinter steht eine ähnlich lange Tradition wie beim New Age. Direkter Vorläufer ist die Ganzheits-Bewegung seit der Jahrhundertwende in Psychologie (Gestaltpsychologie, Ganzheitstheorie, Personalismus), Philosophie (lebensphilosophische, neuidealistische und evolutionäre Strömungen), Biologie (Neu-Vitalismus, Organizismus, Umweltlehre, idealistische Morphologie, Holismus) sowie in den Kultur- und Sozialwissenschaften (Kulturmorphologie, verstehende Soziologie und Nationalökonomie). In der Praxis drückten sich diese Bestrebungen in zahlreichen Lebens-, Schul- und Erziehungsreformbewegungen, aber auch in Kunst, Einrichtung und Architektur aus.
Für die Ökonomie einflussreich waren der "Universalismus" des Wieners Othmar Spann (seit 1911) und die "organische" Wirtschaftsauffassung.
Beide gehen auf die Goethezeit zurück (ca. 1780-1830), in welcher eine erste Ganzheitswelle die deutsche Geisteswelt mit sich gerissen hatte. Nicht nur Ökologie (Alexander von Humboldt, Carl Ritter) und Umweltschutzbestrebungen (Napoleon, England), planerische (C. N. Ledoux) und soziale Utopien (Saint-Simon, Fourier, Owen, später Blanc), Bewegungen für Frauenrechte (seit Condorcet, 1787) und Frieden (z. B. Peace Society in USA und England, 1815/16), Schulreform (Pestalozzi, Herbart, Fröbel) und gesunde Lebensführung formierten sich damals, sondern auch eine idealistische (Fichte) und romantische, organische Wirtschaftsauffassung (Adam Müller 1809, Franz von Baader 1832).
Über grosse Philosophen, Naturforscher und Ärzte lässt sich das Ganzheitsdenken via Renaissance (z. B. Cusanus, Paracelsus, Bruno) und die ersten Jahrhunderte nach Christi Geburt (mit Hermetik, Kabbala, Neuplatonismus und Alchemie) bis zu den ersten Ganzheitstheoretikern Platon und Aristoteles zurückverfolgen.
Ist es unmöglich?
Angesichts dieser langen Vorgeschichte müsste man sich fragen, weshalb sich das "ganzheitliche Denken" nie durchgesetzt hat. Mancherlei Antworten sind möglich:
Alles trifft auch auf die neuen, und das heisst orientalischen oder alternativen, Ansätze zu. Besonders bedauerlich ist, dass manche, die heute lauthals davon sprechen, es als blosse Worthülse verwenden oder als Etikette für das alte Systemdenken oder noch ältere vage organismische Vorstellungen.
Selbsterneuerung und Systemveränderung
Das "neue" ganzheitliche Denken hat jedoch eine sowohl politische wie private Stossrichtung. Erstere verlangt nicht nur eine Abkehr vom sektoriellen Vorgehen, von Salamitaktik und Feuerwehrübungen, sondern auch eine geistige und moralische Erneuerung, eine neue, spirituelle, Haltung und Mentalität. Letztere fordert den ganzen Menschen, der nicht Wein trinkt und Wasser predigt, sondern ernst macht mit der Integration all seiner Eigenheiten und Fähigkeiten, Rollen und Aufgaben.
"Ganzheitliches Denken" heute bedeutet eine radikale Veränderung nicht nur des persönlichen Lebens, sondern auch des gesamten politischen, wirtschaftlichen und soziokulturellen Systems, sowohl lokal wie global. Den sibyllinischen, das heisst wegweisenden, aber unauslotbaren Spruch dafür prägte der Dichter Hugo von Hofmannsthal: "Nur dem in sich Ganzen wird die Welt zur Einheit."
"Ganzheitliches Denken" für Manager heisst
ein ganzer Mensch sein, d.h. nicht nur eine Ganzheit von
Leib, Seele und Geist bilden, eine Harmonie von Wissen und Können, Wollen und
Moral spannungsreich abstimmen, sondern auch ungeteilte Verantwortung
wahrnehmen.
Was ist New Age?
1. Es besteht in einem Liebäugeln mit östlicher Weisheit, die zwei bis drei Jahrtausende auf dem Buckel hat. Damit wendet es sich von Christentum und dem christlichen Weltbild ab.
2. Es steckt ein Bedürfnis nach Einheit dahinter, z. B. nach Einheit von Mensch, Welt und Göttlichem oder nach der einen umfassenden Theorie. Psychologisch drückt sich das aus in der Sehnsucht nach Frieden, Harmonie, Liebe.
3. Es propagiert ein "neues"
Bewusstsein, einerseits in völliger Unkenntnis oder gar Verleugnung der
eigenen Wurzeln, anderseits ohne Kenntnisnahme ähnlicher Bestrebungen in
Gegenwart und Vergangenheit.
4. Es bedeutet eine Abkehr
von der bürgerlichen Lebensauffassung und den herkömmlichen
Weltanschauungen, Idealen und Werten, Methoden und wissenschaftlichen Theorien.
5. Es ist verbunden mit einer Heilserwartung persönlicher oder globaler Art: Wenn ich selber richtig denke, fühle und handle, werde ich erlöst; wenn das viele tun, können die Weltprobleme gelöst werden.
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