Ganzheit, ganzheitliches Denken
Zusammengestellt im Sommer 1990 für eine interdisziplinäre Veranstaltungsreihe „Wissenschaft und Ganzheit“ von Universität und ETH Zürich im Wintersemester 1990/91
500
v. Chr. "Die Summe der Teile ist nicht das
Ganze."
500
v. Chr. "Nur das Seiende ist.
370
v. Chr. Platon: Zusammenschau (synopsis): "Wer
Fähigkeit für jenen Überblick hat, der hat auch
Fähigkeit für Dialektik". Nur wer zusammenschauen kann,
also der Systematiker, ist der wahre Dialektiker.
350
v. Chr. "Von Natur ursprünglicher ist der
Staat als das Haus und jeder einzelne von uns. Denn das Ganze ist
notwendig ursprünglicher als der Teil" (und zwar nicht der
Zeit, sondern dem Begriffe nach).
300 v. Chr. Epikur: Epibolé (Intuition) als schlagartiges Erfassen des ganzen Erkenntnisgegenstandes
300
v. Chr. "Und das
Ganze ist grösser als der Teil."
23
v. Chr. "Wenn sie (die Laien) aber
bemerkt haben, dass alle Wissenszweige unter sich sachlich
miteinander in Verbindung stehen und etwas Gemeinsames haben (omnes
disciplinas inter se coniunctionem rerum et communicationem habere)
... Enzyklopädische Bildung ist nämlich als ein
einheitlicher Körper aus diesen Gliedern zusammengesetzt
(encyclios enim disciplina uti corpus unum ex his membris est
composita)."
180
n. Chr. "Oft erwäge die Verknüpfung von
allen Dingen in der Welt und ihre gegenseitige Beziehung. Denn alle
Dinge sind gewissermassen miteinander verflochten und alle insofern
einander lieb." (6,38)
1000 engl.: wholeness (seit 1400: the whole)
1100 frz.: l’entier (von: integer)
13. Jh. frz.: le tout (von: totus)
1250
"Das Ziel und der Zweck aller unserer Handlungen ist entweder: die
Ganzheit unserer Natur wiederherzustellen oder die
Unvollkommenheiten, denen unser Leben unterworfen ist, zu
erleichtern."
1300 Raymundus Lullus: ars magna oder characteristica universalis
1309
"Die Menschheit ist ein Ganzes mit Bezug auf bestimmte Teile und
ist ein Teil mit Bezug auf ein bestimmtes Ganzes. Sie ist ein
Ganzes mit Bezug auf die einzelnen Reiche und die
Völker ..."
1380
"Das Vollkommene ist das Ganze."
1435
"... dass die Schönheit eine bestimmte gesetzmässige
Übereinstimmung aller Teile, was immer für einer Sache,
sei (certa cum ratione concinnitas universarum partium in eo), die
darin besteht, dass man weder etwas hinzufügen noch
hinwegnehmen oder verändern könnte, ohne sie weniger
gefällig zu machen."
1440
"Die Schönheit ist eine Art Übereinstimmung und ein
Zusammenklang der Teile zu einem Ganzen (consensum et
conspirationem partium in eo), das nach einer bestimmten Zahl,
einer besonderen Beziehung und Anordnung ausgeführt wurde, wie
es das Ebenmass, das heisst das vollkommenste und oberste
Naturgesetz, fordert."
1538
„got ... ist allenthalben ganz im ganzen, alles in allem“
1580
"L'universo è tutto in tutto"
um 1600 „Gänze“: Vollständigkeit, soliditas
1684 Leibniz: volle Zusammenschau (cognitio intuitiva) des Ganzen; mathesis universalis, ars combinatoria
1769
"Es gibt nur ein einziges grosses Individuum, nämlich das
Ganze (le tout). In diesem Ganzen gibt es wie bei einer Maschine
oder irgendeinem Lebewesen einen Teil, den Sie so oder so nennen;
aber wenn Sie diesen Teil des Ganzen als Individuum
bezeichnen, geschieht das nach einem ebenso falschen Konzept, wie
wenn Sie bei einem Vogel den Flügel oder eine Feder des
Flügels als Individuum bezeichnen würden."
1770
Natur ist "das grosse Ganze, das aus der Zusammenfügung
(assemblage) der einzelnen Stoffe, ihren verschiedenen
Kombinationen und den verschiedenen Bewegungsarten resultiert, die
wir im Universum sehen."
1781
Das Ganze ist nicht gegeben, sondern immer nur aufgegeben
1785
"In jedem lebendigen Wesen sind das, was wir Teile nennen,
dergestalt unzertrennlich vom Ganzen, dass sie nur in und mit
denselben begriffen werden können, und es können weder
die Teile zum Mass des Ganzen noch das Ganze zum Mass der Teile
angewendet werden, und so nimmt ... ein eingeschränktes
lebendiges Wesen teil an der Unendlichkeit, oder vielmehr es hat
etwas Unendliche in sich, wenn wir nicht lieber sagen wollen, dass
wir den Begriff der Existenz und der Vollkommenheit des
eingeschränktesten lebendigen Wesens nicht ganz fassen
können, und es also ebenso wie das ungeheure Ganze, in dem
alle Existenzen begriffen sind, für unendlich erklären
müssen."
1787 J. H. Lambert (urspr. 1764/71): System = zweckmässig zusammengesetzes Ganzes
1790
Die Idee des Ganzen bestimmt die Form und Verbindung aller Teile
1793
"An jeder Komposition ist es nötig, dass sich das Einzelne
einschränke, um das Ganze zum Effekt kommen zu lassen."
1797
"Immer strebe zum Ganzen, und kannst du selber kein Ganzes werden,
als dienendes Glied schliess an ein Ganzes dich an!"
1799 "Nicht das Ganze konnte aus den Teilen, sondern die Teile mussten aus dem Ganzen entspringen".) Friedrich Wilhelm Joseph Schelling
1800
"Denn Wissenschaft ist ein Ganzes der Erkenntniss als System und
nicht bloss als Aggregat."
1800
„Der Staat allein ist’s, der eine unbestimmte Menge Menschen zu einem geschlossenen Ganzen, zu einer Allheit vereinigt“
1807
"Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine
Entwicklung sich vollendende Wesen."
1808
"Die Wurzel aller Sittlichkeit ist die Selbstbeherrschung, die
Selbstüberwindung, die Unterordnung seiner
selbstsüchtigen Triebe unter den Begriff des Ganzen."
1817
"Da nichts existieren kann, wenn es in sich nicht die Bedingungen
vereinigt, welche seine Existenz möglich machen, so
müssen die verschiedenen Teile eines jeden Naturkörpers
so zusammengeordnet sein, dass das Gesamtwesen derselben nicht nur
in sich selbst, sondern auch in Beziehung auf seine Umgebungen
möglich sei."
1818
"Jede Betrachtung über den Menschen und über die Natur
führt uns von dem Einzelnen zu seinem Verhältnisse mit
dem Ganzen ... Aus dem Einzelnen geht die volle Erkenntniss des
Ganzen nicht hervor, wenn nicht auch dieses zugleich erkannt
ist."
1840
Um 1840 in der Schweiz: Die Radikalen drängen zu "ganzen
Lösungen", insbesondere zu einer starken staatlichen
Zentralgewalt.
1843
"Die Wirkung zusammenwirkender Ursachen ist nicht immer genau die
Summe der einzelnen Wirkungen dieser Ursachen, noch auch immer eine
Wirkung von derselben Art wie diese Wirkungen."
um 1880 G. Th. Fechner unterscheidet synechologische Betrachtungsweise von einer monadologischen
1890 Christian von Ehrenfels: Über Gestaltqualitäten
1894 Wilhelm Dilthey: ganzheitliches Verstehen
1895
"Unter einer 'Menge' verstehen wir jede Zusammenfassung M von
bestimmten wohlunterschiedenen Objekten m unserer Anschauung oder
unseres Denkens (welche die 'Elemente' von M genannt werden) zu
einem Ganzen."
1912
„Das Ganze ist der Inbegriff, nicht nur die Summe, seiner Teile“
1914
"Die Ganzheit wird in den Gliedern geboren."
1917 Hans Driesch: Ganzheit, Wirkungseinheiten, dynamische Systeme (letztere stehen zwischen logischer und realer Ganzheit)
1921
"In der Philosophie als der Wissenschaft vom Ganzen der Welt kommt
alles auf den Zusammenhang des Systems an, in dem die Resultate des
Nachdenkens sich darbieten. In den Spezialwissenschaften sind die
einzelnen Ergebnisse für sich wichtig. Das All lässt sich
begrifflich nur im System fassen. Jedes unsystematische Denken
bleibt daher notwendig partikular" (VII).
1923 Hans Driesch: Ganzheit kann nicht definiert werden; sie ist eine Setzung.
1925 Max Wertheimer: Was an einem Teil geschieht, wird von den Strukturgesetzen des Ganzen bestimmt.
1927 Ferdinand Weinhandl: Relationengeflecht im Ganzen.
1932
"Die ganzheitliche Betrachtungsweise besteht darin, das gesamte
Betriebsgeschehen und die Betriebsstruktur unter verschiedenen,
einzelnen, jeweils anderen Gesichtspunkten anzusehen ... Die so
gekennzeichnete ganzheitliche Betriebsauffassung vom
wirtschaftlichen Standpunkte ist nun aber noch nicht die
ganzheitliche Betriebsauffassung im eigentlichen, vom Leben
und seiner Ganzheit her gesehenen Sinne ... Dieser
Gesamtzusammenhang ist es nun aber, von dem aus die Wirtschaft und
das 'wirtschaftliche Geschehen im Betrieb' seinen Sinn
erhält, in dessen Wesen es dadurch liegt, dass dieser Sinn
über den der Wirtschaft hinausgeht."
1933
„Die optischen Messinstrumente ... sind bei dem Messungsvorgang aktiv mitbeteiligt, sie üben einen kausalen Einfluss aus auf sein Ergebnis. Erst mit ihm zusammen bildet das betrachtete physikalische System ein gesetzliches Ganzes.“
1938 H. Feuerborn: "Das 'Ganze' des lebenden Systems ist die Summe seiner spezifisch geordneten und spezifisch gearteten stofflichen und energetischen Teile."
1938
"Für unsere Zwecke können wir sagen, dass ein System
etwas ist, das als Ganzes behandelt werden muss, weil jeder Teil zu
jedem anderen Teil, den es umfasst, in einer signifikanten Weise in
Beziehung steht. (Diese 'signifikante Weise' besteht darin, dass
die Komponenten interdependente Variablen sind)."
1939
"for the treatment of wholes we can use 'system'"
1947
„Die Ganzheit wird dem Denkenden durch Eingebung (vermittelt durch Sinnesempfindung) gegeben; sie bildet die Begriffsgrundlage ...“
1948
"Gegenwärtig treten auf allen Gebieten Auffassungen in den
Vordergrund, die mit einem recht verschwommenen Begriff als
'ganzheitlich' bezeichnet zu werden pflegen."
1949
"Der Mensch ist das Ganze seiner Mutationen; und nur insofern es
ihm gelingt, die Ganzheit zu leben, ist sein Leben ein
ganzheitliches."
1950
Ludwig von Bertalanffy: "General System Theory is a new scientific
doctrine of 'wholeness'."
1950
"Ganzheit kann nicht eigentlich definiert, sondern nur aufgewiesen
oder 'aufgezeigt' werden; dies aber mit unmittelbarer
Einsichtigkeit nur im und am Erleben."
1951
verkündete das "Philosophische Wörterbuch",
begründet von Heinrich Schmidt: "In der Gegenwart ist die
ganzheitliche Auffassungsweise aller Gegebenheiten
vorherrschend."
1957ff "Zeitschrift für Ganzheitsforschung", Mitteilungsblatt der Gesellschaft für Ganzheitsforschung, Wien, an der Hochschule für Welthandel
1959 „Das Ganze ist gleichsam die ‚Urpflanze’, gemäss deren Wesen Seelisches ‚unbegrenzt erfunden werden kann’“
1962
"So schwierig es auch sein mag, wir müssen mehr holistisch als
atomistisch denken lernen."
1963
Gestalt kann nicht definiert werden. "Organismische Gestalten
sind ... zumeist sehr innerliche Bezüge."
1963 Charles E. Lindblom: "Synoptisches Vorgehen" ist ein blosses Ideal, da es die Vermögen des Menschen übersteigt.
1964
"In Fortsetzung der Einsichten Hegels in die Dialektik von Teil und
Ganzem und bei gleichzeitiger Überwindung seines Idealismus
schuf der dialektische Materialismus eine erstmals wirklich
wissenschaftliche Ganzheitstheorie."
1964
"Ganz ist, wovon keine andre als komplementäre Beschreibung
gegeben werden kann."
1965
"Jedes System muss als einheitliches Ganzes aufgefasst werden,
obwohl es aus mehreren, für verschiedene Zwecke
spezialisierten Strukturen und Teilfunktionen besteht."
1968
„Die Vorstellung eines Ganzen, das aus Teilen besteht, ist nicht etwa dem menschlichen Denken zwingend vorgeschrieben, sondern ein Versuch, die Frage nach dem Sein des Seienden zu beantworten – oder vielleicht eher, ihr auszuweichen.“
1969
"Allenthalben erschrickt man vor der eigenen Tüchtigkeit, aber
auch vor dem Gefühl der Ohnmacht und der Erkenntnis, dass wir
die Übersicht und die Verantwortung für die Ganzheit
verloren haben."
1970
"Die ganzheitliche Denk- und Sehweise scheint sich ganz
natürlich und automatisch bei gesünderen, mehr
selbstverwirklichenden Menschen einzustellen und scheint sehr
schwierig für weniger entwickelte, reife, gesunde Menschen
erreichbar zu sein."
1973
"Das Modewort vom ganzheitlichen Denken bedeutet nichts weniger als
die Umkehr der gewohnten Denkrichtung, bedeutet die
Berücksichtigung von Realitäten, welche nicht auf die
stofflichen Prozesse reduzierbar sind."
1975
Das Makroskop ist ein Werkzeug symbolischer Art. Es erlaubt die
"Gesamtschau" auf Systeme
1986
Das "Ganze" denken "ist identisch mit materialistischer
Dialektik".
Dr. phil. Roland Müller, Switzerland / Copyright
© by Mueller Science 2001-2016 / All rights reserved Webmaster by best4web.ch |