Animismus
Kurze Notizen Zusammengestellt für eine Vorlesung im Wintersemester 1989/90 zu Edward Burnett Tylor: Primitive
Culture. Researches into the development of mythology, philosophy,
religion, art, and custom. 2 Bde. London: John Murray 1871; zahlreiche
Aufl. bis 1929; Nachdruck der 1. Aufl. New York: Gordon Press 1974 sowie im
Rahmen der "Collected Works", Bde 3 und 4, London: Routledge/
Thoemmes 1994;
Wenn man sich endlich aufrafft, ein berühmtes Werk im Original (resp. in der ersten Übersetzung) zu lesen, ist man immer wieder erstaunt, dass da etwas ganz anderes steht, als man auf Grund der Sekundärliteratur erwartet, und zudem scheint es viel vernünftiger. So ging es mir auch mit Edward B. Tylors "Anfänge der Cultur" (1873, engl.: Primitive Culture 1871).
Tylor war ein enorm belesener Mensch; er hat für sein Buch Berge von Literatur durchgeackert. Manche seiner Anschauungen gelten heute als überholt, aber zitiert hat man sie hundert Jahre lang, meist allerdings entstellt und verfälscht.
Survivals und Spiritismus
Berühmt geworden ist er durch seine Lehre von den Survivals. Das sind Vorstellungen aus früheren Zeiten, die auch heute, in unserer aufgeklärten Zeit, immer noch wirksam sind. Man kann sie auch als Volks- und Aberglauben bezeichnen. Unter anderem meint Tylor auch den zu seiner Zeit grassierenden Spiritismus (141-159). Der moderne Spiritismus, vor allem "durch die in hohem Grade animistischen Lehren Emanuel Swedenborgs" im 18. Jahrhundert wieder aufgebracht, ist "zum grossen Theile ein direktes Auflebsel aus den Regionen der wilden Philosophie und des Volksglaubens der Bauern" (143f, 142). Dieser Spiritismus wiederholt "den Ideengang der niedersten Rassen bis zum Äussersten" (II, 17), er ist ein Überlebsel (II, 205). Wir haben heute "New Age".
Der Animismus könnte auch Spiritismus heissen
Eine zweite berühmte Lehre Tylors ist diejenige vom Animismus. Er interessierte sich für die "natürliche Entwicklung der religiösen Ideen in der Menschheit" (419), und er fand, am Anfang derselben müsse der Animismus vorgeherrscht haben. Er hätte auch von Spiritismus sprechen können, doch da dieser Begriff "zur Bezeichnung für eine einzelne moderne Sekte geworden ist" (420), griff er lieber auf Animismus zurück. Der Ausdruck war damals nicht neu; er wurde gebraucht für die um 1700 vom Arzt und Chemiker G. E. Stahl aufgestellte vitalistische Lehre, wonach die Seele das Lebensprinzip der Organismen darstelle.
Nun meinte Tylor: "Der Animismus ist charakteristisch für Stämme von sehr niedrigem Range rücksichtlich der Civilisation, und reicht von hier aus, allerdings in seinem Fortgange bedeutend modificirt, aber durch von Anfang bis zu Ende in ununterbrochenem Zusammenhange bis mitten in die moderne Cultur hinein ... Der Animismus ist in der That die Grundlage der Philosophie der Religion von der der Wilden an bis hinauf zu der der civilisirten Menschen" (420).
Man muss also unterscheiden: Survivals, als Überlebsel aus früheren Zeiten, und die Weiterentwicklung und Modifizierung der ursprünglichen Ideen im Laufe der Zeit.
Zwei Dogmen: Seelen und Geister
Tylor unterscheidet zwei grosse Dogmen des Animismus: - "das erste betrifft Seelen von individuellen Geschöpfen, die nach dem Tode oder der Vernichtung des Körpers ihre Existenz fortzuführen vermögen", - "während das zweite andere Geister betrifft, bis zum Range von mächtigen Gottheiten hinauf. Geistige Wesen, glaubt man, beeinflussen und lenken die Ereignisse der materiellen Welt und zwar sowohl dieses wie das künftige Leben des Menschen; und da man annimmt, dass sie mit Menschen verkehren und von menschlichen Handlungen angenehm oder unangenehm berührt werden, so fährt der Glaube an ihre Existenz ganz naturgemäss, man könnte fast sagen unvermeidlich früher oder später zur activen Verehrung und Versöhnung" (420f).
Der Anfang der natürlichen Religion
Wie fing diese natürliche Religion an? Tylor meint: "Es scheint, als ob zwei Gruppen von biologischen Problemen auf denkende Menschen, selbst auf einer noch niedrigen Culturstufe, einen tiefen Eindruck gemacht haben. - Erstens, was macht den Unterschied zwischen einem lebenden Körper und einem todten? was ist die Ursache von Wachen, Schlaf, Verzückung, Krankheit, Tod? - Zweitens, was sind jene menschlichen Gestalten, die uns in Träumen und Visionen erscheinen?" (422).
Der frühe Mensch, Tylor nennt ihn den "wilden Philosophen", versuchte also auf diese Fragen eine Antwort zu finden, und er fand sie nach Tylor in der Geistseele oder Geisterseele.
„Der wilde Philosoph, der diese beiden Gruppen von Erscheinungen sah, hat praktisch die eine zur Erklärung der andern benutzt, indem er beide in einen Begriff vereinigte, den wir Gespenstseele oder Geistseele nennen können. Der Begriff einer persönlichen Seele oder eines persönlichen Geistes bei den niederen Rassen lässt sich folgendermassen definiren: Es ist ein dünnes körperloses menschliches Bild, seiner Natur nach eine Art Dampf, Häutchen oder Schatten, die Ursache des Lebens und Denkens in dem Individuum, das es bewohnt; es besitzt unabhängig das persönliche Bewusstsein und den Willen seines körperlichen früheren oder jetzigen Besitzers; es vermag den Körper weit hinter sich zu lassen, um schnell von Ort zu Ort zu eilen; es ist meistens ungreifbar und unsichtbar, doch offenbart es auch physische Kraft und erscheint besonders den Menschen im wachenden oder schlafenden Zustande als ein von dem Leibe, dem es ähnlich ist, getrenntes Phantasma; endlich kann es in den Körper anderer Menschen, Thiere und selbst Dinge eindringen, sie in Besitz nehmen und beeinflussen.
Obgleich diese Definition keine ganz ausnahmslose Anwendung zulässt, so besitzt sie doch hinreichend Allgemeinheit, um als Norm dienen zu können, die sich durch mehr oder minder bedeutendes Abweichen bei einzelnen Völkern modificirt.
Weit entfernt, dass diese über die ganze Erde verbreiteten Anschauungen Producte der Willkür oder des Herkommens seien, ist es vielmehr nur selten gerechtfertigt, in ihrer Gleichförmigkeit bei getrennten Rassen einen Beweis für einen Zusammenhang irgend einer Art zu sehen. Es sind Lehren, die in wirksamster Weise dem reinen Zeugnisse der menschlichen Sinne, wie eine vollkommen consequente und rationelle primitive Philosophie es auslegt, Genüge leisten. In der Trat, die Theorie erklärt die Thatsachen so gut, dass sie sich bis in die höheren Bildungsstufen hinein behauptet hat. Wenn auch die Philosophie der klassischen Zeit und des Mittelalters sie in manchen Punkten modificirt hat und die moderne Philosophie noch schonungsloser mit ihr umgegangen ist, so hat sie doch so weit Spuren ihres ursprünglichen Charakters bewahrt, dass man berechtigt ist, in der bestehenden Psychologie der civilisirten Welt mancherlei Erbstücke aus uralten Zeiten zu erkennen“ (422-423).
Diese Geistseele kann nun mit verschiedenen Wörtern bezeichnet werden. Tylor erwähnt: - Schatten (für das was der Träumende oder Visionär sieht) - Herz (als Sitz der Seele resp. des Lebens) - Atem (als das Belebende).
Mehrere Seelen
Viele "wilde Rassen" kennen auch mehrere Seelen, z. B. zwei, drei oder vier. "Solche Classificationen sind denen der höheren Rassen ähnlich" (428), finden sich also auch bei den Ägyptern und Hindus, bei den Griechen und Römern sowie im Mittelalter. Wichtig dabei ist, dass die verschiedenen Ausdrücke "nicht als Bezeichnungen wirklich getrennter Lebewesen angesehen" werden, "sondern etwa wie die einzelnen Formen und Functionen eines Individuums. So rührt die Verwirrung, welche hier in unsern eigenen Gedanken und Sprachen in einer für die Gedanken und Sprachen der gesammten Menschheit typischen Weise herrscht, nicht bloss von der Unbestimmtheit der Ausdrücke her, sondern von einer alten Theorie einer substantiellen Einheit, die ihnen zu Grunde liegt" ('429).
Kurz: In der ursprünglichen animistischen Theorie der Vitalität gilt die Seele als Ursache der Lebenserscheinungen. Manche körperlichen oder geistigen Zustände können mit der Annahme erklärt werden, dass die Seele oder einer der sie bildenden Geister zeitweilig den Körper verlassen hat, z. B. bei Ohnmacht, Krankheit, Lethargie oder Verzückung, aber auch im Schlaf oder bei der Suche nach anderer Weisheit, usw.
Auch unbelebte Dinge haben Seelen
Gemäss dem Animismus haben auch Tiere Seelen (462ff), ferner Pflanzen (468f), ja sogar, was "unsern modernen Gedanken viel seltsamer erscheint" (470), auch unbelebte Dinge, wie Steine und Waffen, Kleidung und Gegenstände des täglichen Gebrauchs. Auguste Comte sprach bereits vom "reinen Fetischismus" (vgl. auch II, 154-181). Taylor findet diese Auffassung nicht abwegig, haben wir doch auch im Traum "Phantome" von Gegenständen. Diese Auffassung findet sich, wie Taylor nachweist, auch noch in der griechischen und römischen Metaphysik. Bei Demokrit gehen von den Dingen Bilder (eidola) aus, dringen in die zur Aufnahme bereite Seele ein und kommen so zur Wahrnehmung. Lukrez spricht ähnlich von häutchenartigen Bildern der Gegenstände (simulacra, membranae). Taylor dazu: "Ein so ununterbrochener Zusammenhang besteht in der philosophischen Speculation von den wilden Anschauungen an bis zum civilisirten Denken. Soviel verdankt die civilisirte Philosophie dem primitiven Animismus" (491).
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