Bedarf und Bedürfnisse sind streng auseinanderzuhalten. Den Bedarf kann man recht genau bestimmen und messen, Bedürfnisse dagegen sind nicht in Zahlen zu fassen und häufig wechselhaft oder gar gegenläufig.
Etwas überspitzt gesagt: Marketing orientiert sich am Bedarf, Werbung an den Bedürfnissen und andern psychischen Erscheinungen. Das ist die Schwierigkeit, aber auch die grosse Herausforderung für die Werbeleute. Daher ist Marketing eher eine Wissenschaft, Werbung eher eine Kunst.
Bedarf haben Individuen und Haushalte, Unternehmen und Abteilungen, Ämter und Behörden, Vereinigungen und Institutionen; Bedürfnisse befinden sich nur bei Individuen.
Die Ökonomie unterscheidet 5 Arten von Bedarf: · Grundbedarf (laufend) · Neubedarf (z. B. bei neuen Haushalten) · Ersatzbedarf (wenn Bisheriges veraltet oder abgenützt) · Umstellungsbedarf (z. B. bei Änderung eines Verfahrens) · Komplementärbedarf (z. B. Zubehör, Folgeinvestitionen).
Wie ist das Verhältnis von Bedürfnis und Bedarf? Bedürfnisse äussern sich in Bedarf; aber der kann je nach Zeit und Umständen sehr verschieden sein.
Der Bedarf lässt sich nach den 7 W's bestimmen: • wonach? • wer? • wieviel? • welches Preis- und Qualitätsniveau? • wie stark, wie dringlich? • wann, wie lange, wie häufig? • wo?
Hierbei kommen vielfach Erfahrungswerte zum Zug, z. B. "verbraucht" jeder Schweizer - statistisch gesehen - im Jahr 120 l Milch, etwa 110 l Süssgetränke und Säfte, 70 l Bier, 50 l Wein, 100 kg Früchte, 90 kg Fleisch und 10 kg Schokolade, 8,5 kg Waschmittel, 1 kg Bade- und Duschpräparate, 400 g Zahnpasta und 2 Zahnbürsten.
Ähnliches gilt für Investitionsgüter und Einrichtungen, Veredlungsprodukte und Halbfabrikate. Eine Firma braucht Druckluft, Toiletten- und anderes Papier, eine Kantine oder einen Fahrzeugpark. Auch hier zeigt sich das Entscheidende: Der Bedarf geht nach Produkten oder Leistungen, nicht nach Marken oder Namen.
Marketing und Werbung müssen aber für den Absatz eines bestimmten Anbieters sorgen, sei er Hersteller, Händler oder Vertreter. Branchen-, Verbands-, Gemeinschafts- oder Sammelwerbung ist eine Ausnahme.
Was bedeutet es nun, wenn behauptet wird: Das Produkt ist auf Bedürfnisse zugeschnitten? Welches Bedürfnis wird befriedigt, wenn Streichholzköpfe beim Anzünden als kleine Feuerwerke herumfliegen und auf Schreibtischgarnituren, Tischtüchern, Kleidern und Teppichen Schmauchspuren hinterlassen? Was für Sehnsüchte stillen Quartz-Uhren, welche die Umstellung auf die Sommerzeit in drei Wochen von selbst bewerkstelligen oder Eier-Uhren, angeschrieben mit "3 Min.", in denen der Sand in 2 1/2 Minuten herunterrieselt?
Welche Innovation steckt hinter "garantiert grätenfrei" angepriesenen Fischstäbchen, die dennoch Gräten aufweisen, hinter tropffreien Kerzen, die den Ständer bekleckern, hinter Mineralwasser, das wie Leitungswasser schmeckt, und zuckerschweren light-Getränken?
Bei Schulbänken und andern Möbeln besteht oft der Verdacht, der Hersteller habe noch nie etwas von Ergonomie gehört. Manche Kochherde haben zwar vier Platten, aber es ist nicht möglich, drei Bratpfannen ordentliche darauf zu stellen. Man braucht gar nicht immer die Computer Software oder Golden Delicious heranzuziehen um zu zeigen, dass Bedarfsdeckung und Bedürfnisbefriedigung oft weit auseinanderklaffen.
Bedenklich genug, kann dies noch weiter kompliziert werden, indem Anforderungen und Ansprüche dazwischengeschoben werden, z. B. • Medikamente müssen wirkungsvoll, unbedenklich und von guter Qualität sein. • Bauzonen, Bauvorschriften und SIA-Normen regeln die Bautätigkeit. • Textilien wie Kleider, Vorhänge und Teppiche dürfen nicht flammbar sein. • Umweltverträglichkeit oder Schadstofffreiheit wird von immer mehr Produkten und Herstellungsverfahren gefordert. • Zahlreiche Angebote unterliegen Produkthaftpflicht, Deklarationspflicht, Preisbindung, technischen Normen und Standards.
Stammen diese Anforderungen vorwiegend von Behörden, Verbänden oder Kartellen, so hat auch der Konsument zahlreiche Ansprüche anzumelden, wie etwa: • Sauberkeit von Verkaufsräumen, Gaststätten, Transportmitteln • Leichte Erreichbarkeit und Zugänglichkeit der Verkaufstätten oder Praxen mit Parkplätzen; Zustellung sperriger Güter • Hygienische und praktische Verpackungen • Dauernde Bezugsmöglichkeiten, Gewährleistung von Nachbestellungen und Ersatzteilen über lange Zeit • Fairness bei Differenzierung von Preisen, Konditionen und Zusatzleistungen • freundliche und kompetente Bedienung oder Betreuung • Reichhaltiges, aktuelles und spezifisches Angebot • Kulanz bei Reklamationen und Garantieleistungen; Speditivität und Sorgfalt bei Reparaturen • Lieferung oder Leistung gemäss Offerten, Kostenvoranschlag und Vereinbarung.
Das ist nicht nur Beigemüse. Der "Dienst am Kunden" ist vielmehr die Voraussetzung für jede längerfristig erfolgreiche Werbung. Bevor der Werber die Bedürfnisse ins Visier nimmt, hat er sich zu vergewissern, ob sein Auftraggeber - der Anbieter - Anforderungen und Ansprüchen Rechnung getragen hat. Es liegt in seinem ureigensten Interesse abzuklären, ob dergleichen Randbedingungen stimmen, damit er nach einer tollen Kampagne nicht mit abgesägten Hosen dasteht.
Der Sinn all dieser Abklärungen liegt also darin, den Boden zu bereiten für das, was der Werber schon längst liebend gern getan hätte: Kreativ zu sein. Erst jetzt darf er nach Herzenslust auf der Klaviatur der Bedürfnisse herumklimpern.
Dr. phil. Roland Müller,
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