Vorläufer der Arbeitswissenschaft
ca. 1500-1925
Die "guten Werke" sind in der täglichen Arbeit, etwa in der Kindererziehung und der beruflichen Tätigkeit zu suchen. Martin Luther 1520
Die Arbeit ist "ein gut göttlich Ding". Ulrich Zwingli 1523
"Es ist nicht genug zu wissen, man muss auch tun." J. W. v. Goethe
"Die Handlung ist die klarste Enthüllung des Individuums, in betreff seiner Gesinnung sowohl, als auch seiner Zwecke." G. W. F. Hegel
Der Arbeitsprozess ist "ewige Naturbedingung des menschlichen Lebens". Karl Marx: Das Kapital I, 1867
Ebenso reichhaltig wie genau berichtet Rolf Hackstein in seiner zweibändigen "Arbeitswissenschaft im Umriss" (1977) über die unzähligen Definitionen von "Arbeitswissenschaft" (deutsch) und frühe Untersuchungen der menschlichen Arbeit (II, 322-460).
Leonardo da Vinci
Die ersten experimentellen Arbeitsstudien finden sich bei Leonardo da Vinci (um 1500).
17. Jahrhundert: Vauban
Spätestens im 17. Jahrhundert strebte man eine Verringerung des Aufwandes an Kosten und Zeit durch Steigerung der Arbeitsmotivation an - z. B. durch lohnmässige Berücksichtigung der Arbeitsmenge pro Zeiteinheit und der Arbeitsschwierigkeit. In nachgelassenen Schriften hat der grosse französische Festungsbauer Sebastién le Prestre de Vauban (vor 1700) diese Regelung differenziert und auf Grund genauer Studien Hinweise auf de Berechnung "angemessener Tagesverdienste" gegeben. Die Arbeitszeit sei auf 10 Stunden und die Pausenzeit, zusätzlich, auf 3 Stunden festzulegen; Sonntagsarbeit bringe keinen Gewinn. "Er übertrieb die Schonung des menschlichen Lebens", meinte der Herzog von Saint-Simon in seinen "Mémoires".
18. Jahrhundert: Bélidor, Réaumur, Perronet, Smith
Auszüge aus Vaubans Manuskripten hat der als Wasserbauarchitekt bekannte Bernard Forest de Bélidor in seinem 1729 veröffentlichten Buch "Die Wissenschaft der Ingenieure in der Führung von Arbeiten an Festungs- und Zivilbauten" gebracht. Bélidor selber hat genaue Arbeitszeitstudien und daraus sich ergebende Preiskalkulationen in seinem grossen Werk über "Wasserbau" (1750/53) vorgelegt. Ein anonymer Chronist meinte über 200 Jahre später: "Die Ingenieure können nirgendwo anders ... so gültige Kenntnisse über die Verwaltung von Arbeiten, die ihnen übertragen sind, über die Art und Weise der Überwachung, die sie ihnen bei deren Ausführung zu widmen haben, über den Grad der Strenge, den sie im Umgang mit den Unternehmern üben müssen, und schliesslich vor allem über die moralische Seite ihrer Führungsaufgaben erwerben." (Anonym: Bélidor. In: L’étude du travail. Paris 1961, 121, S. 33-42)
Die "Academie Royale des Sciences" hatte sich schon 1695 entschlossen, eine bis in feinste Details eindringende, umfangreiche wissenschaftliche Beschreibung der handwerklichen Verfahren und technischen Vorrichtungen in Wort und Bild vorzunehmen, um besonders rationelle, wenig bekannte Prozesse zum allgemeinen Nutzen des Landes ans Licht zu bringen. Daraus ergab sich das von René Réaumur begonnene Riesenwerk "Description des arts et métiers" (1761-1789). Schon vor 1717 interessierte man sich beispielsweise für eine Herstellung von Nadeln. 1739/40 beschrieb der Strassen- und Brückenbauer Jean-Rodolphe Perronet die diesbezügliche Arbeitsteilung äusserst genau. Auf seine Unterlagen stützten sich dann Adam Smith (1776) und Charles Babbage (1832). Smith sah bereits die Gefahren einer zu weit getriebenen Arbeitsteilung: Lähmung und Dummheit.
Die Gefahren der Arbeitsteilung
"Der Mann, der sein ganzes Leben damit verbringt, nur ein paar einfache Handgriffe auszuführen, deren Ergebnis ausserdem immer dasselbe oder beinahe immer dasselbe ist, hat keinerlei Möglichkeit, seinen Verstand anzuwenden oder seine Erfindungsgabe zu gebrauchen, um Wege für die Beseitigung von Schwierigkeiten zu ersinnen, die ihm niemals begegnen. Folglich verliert er die Gewohnheit solcher Anstrengung und wird in den meisten Fällen so stumpfsinnig und unwissend, wie ein menschliches Wesen nur werden kann. Die Stumpfheit seines Geistes macht ihn nicht nur unfähig, eine vernünftige Unterhaltung zu geniessen oder einen Teil dazu beizutragen, sondern hindert ihn auch, irgendeiner grossartigen, edlen oder zärtlichen Gefühlsregung fähig zu sein, und nimmt ihm mithin das Vermögen, ein gerechtes Urteil im Hinblick auf die einfachsten Pflichten seines Privatlebens zu fällen." Adam Smith: An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations. 1776.
Perronets Leistungen bei der Anfertigung von Strassenkarten führten übrigens dazu, dass der französische König 1747 die "Ecole des Ponts et Chaussées" einrichten liess; es ist die erste Ingenieurschule der Welt.
Seit 1850: arbeitsphysiologische Studien von Mosso Marey und Kraepelin
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurden eingehende arbeitsphysiologische Studien betrieben und viele technische Registrier- und Messapparaturen entwickelt, etwa von Angelo Mosso in Turin, Etienne Jules Marey in Paris und Emil Kraepelin in Deutschland und Dorpat. Marey benutzte seit 1882 auch momentphotographische Serienaufnahmen zum Studium der Körperbewegungen.
Bei Kraepelin, der später als Psychiater berühmt werden sollte, trat, wie er in seinen "Lebenserinnerungen" schreibt, schon im letzten Jahr seiner Schulzeit "immer entschiedener die Neigung zur Beschäftigung mit psychologischen Fragen hervor" (3; vgl. 21). Er studierte daher ausser Medizin auch Psychologie bei Wilhelm Wundt in Leipzig (1877 und 1882-83), wo er sich vor allem mit "psychischen Zeitmessungen" beschäftigte und den Einfluss von Arzneimitteln und Alkohol untersuchte. Dieses Thema liess ihn nicht mehr los. Viele Studenten kamen unter seiner Leitung zu "wichtigen neuen Erkenntnissen". Manche Arbeiten publizierte er in den von ihm seit 1896 herausgegebenen "Psychologischen Arbeiten". "Das wichtigste Ergebnis aller unserer Untersuchungen ... war die Gewinnung eines tieferen Einblickes in das Zustandekommen der Arbeitskurve" (119f; Abhandlung publiziert 1902). Einer seiner letzten Aufsätze bot "Arbeitspsychologische Ausblicke" (1925).
Nach 1900: „Scientific Management“ und „Psychotechnik“
Hackstein betont, dass Kraepelin die Probleme der menschlichen Arbeit und Leistung "umfassender und mit weitaus grösserer wissenschaftlicher Strenge und Anspruchshöhe" erkannt und bearbeitet hat als die Ingenieure Taylor und Gilbreth. Ferner weist er darauf hin, dass die Europäer im Labor, die Amerikaner vorwiegend im Betrieb und am Arbeitsplatz forschten. Und erstere gingen stets von einer mittleren oder optimalen Leistung, letzte von einer Höchstleistung aus.
Nach Europa kam das Taylorsystem 1905 (England). 1907 erschien die erste Übersetzung in Frankreich; zwischen 1908 und 1921 erschienen die deutschen Übersetzungen der Werke von Taylor und Gilbreth. Das "scientific management" ist so wissenschaftlich wie der "wissenschaftliche Sozialismus".
1917 wurde in den USA die "Society of Industrial Engineers" gegründet, ein Jahr später im VDI (Verein Deutscher Ingenieure) ein "Ausschuss für wirtschaftliche Fertigung" (AWF), Keimzelle des 1924 gegründeten "Reichsausschusses für Arbeitszeitermittlung" (REFA).
Da sich unterdessen seit der Jahrhundertwende die sog. "Psychotechnik" entfaltet hatte, waren viele Begründer der deutschen "Arbeitswissenschaft" Psychologen. Hackstein meint: "Ohne die Psychotechniker, die zwischen den beiden Weltkriegen zumindest gleichwertig neben den Arbeitsphysiologen des Kaiser-Wilhelm- bzw. des Max-Planck-Instituts für Arbeitsphysiologie [1913 resp. 1948] als Vorläufer der heutigen Arbeitswissenschaftler angesehen werden müssen, ist das, was heute in Deutschland unter 'Arbeitswissenschaft'. firmiert, nicht denkbar" (I, 125) Arbeitspsychologie, -pädagogik und -technologie arbeiteten damals bereits interdisziplinär zusammen (I, 214f).
Literatur zur Geschichte der Arbeitswissenschaft und -psychologie
Georges Bricard: L'organisation scientifique du travail. Paris: Colin 1927, 2. Aufl. 1934. Morris Simon Viteles: Industrial Psychology. New York: Norton 1932; Nachdruck New York: Garland 1987 (geschichtlich S. 8-56) Georges Friedmann: Problèmes humains
du machinisme idustriel. Paris 1946; Samuel P. Hays: Response to Industrialism, 1885-1914. Chicago: University of Chicago Press 1957, zahlreiche Auflagen. Loren Baritz: The Servants of Power. A History of the Use of Social Science in American Industry. Middletown, Conn.: Wesleyan University Press 1960. Leonard W. Ferguson: The Heritage of Industrial Psychology. Hartford: Conn.: Finlay 1963-68. Friedrich Dorsch: Geschichte und Probleme der Angewandten Psychologie. Bern: Huber 1963. Samuel Haber: Efficiency and Uplift: Scientific Management in the Progressive Era, 1890-1920. Chicago: The University of Chicago Press 1964. Arthur Mayer: Die Betriebspsychologie in einer technisierten Welt. In Mayer/Herwig (Hrsg.): Handbuch der Psychologie. Bd. 9: Betriebspsychologie. Göttingen: Hogrefe 1970, S. 3-55. Edwin T. Layton jr.: The Revolt of the Engineers. Cleveland 1971 (über die technokratische Bewegung). Peter Groskurth, Walter Volpert: Lohnarbeitspsychologie. Berufliche Sozialisation: Emanzipation zur Anpassung. Frankfurt: Fischer Taschenbuch Verlag 1975 (Nr. 6288). Peter Hinrichs, Lothar Peter: Industrieller Friede? Köln: Pahl-Rugenstein 1976 (Rezeption des Taylorismus mit Zitaten). Rolf Hackstein: Arbeitswissenschaft im Umriss. 2 Bde, Essen: Girardet 1977, bes. II, S. 322-460. Walter Volpert: Von der Aktualität des Taylorismus. Einleitung zum Nachdruck von F. W. Taylor: Die Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung (1911). Weinheim: Beltz 1977. Matthew Hale, Jr.: Human Science and Social Order. Hugo Münsterberg and the Origins of Applied Psychology. Philadelphia 1980. Donald S. Napoli: Architects of Adjustment. The History of the Psychological Profession in the United States. Port Washington: Kennikat 1981. Siegfried Jaeger, Irmingard Stäuble: Die Psychotechnik und ihre gesellschaftlichen Entwicklungsbedingungen. In: Die Psychologie des 20. Jahrhunderts, Bd. 13, Zürich: Kindler 1981, S. 53-95. Peter Hinrichs: Um die Seele des Arbeiters. Arbeitspsychologie, Industrie- und Betriebssoziologie in Deutschland. Köln 1981. Angelika Ebbinghaus: Arbeiter und Arbeitswissenschaft. Zur Entstehung der "Wissenschaftlichen Betriebsführung". Opladen 1984. Gertraude Krell: Das Bild der Frau in der Arbeitswissenschaft. Frankfurt 1984. Dieter Schneider: Allgemeine Betriebswirtschaftslehre. Zweite, neubearbeitete und erweiterte Auflage der "Geschichte betriebswirtschaftlicher Theorie". München: Oldenbourg 1985 (z. B. über doppelte Buchhaltung S. 96-106, zu den Organisationstheorien S. 203-215) Rainer W. Hoffmann: Wissenschaft und Arbeitskraft. Zur Geschichte der Arbeitsforschung in Deutschland. Frankfurt: Campus 1985 (umfasst die Zeit von ca. 1911-1933). Ruedi Rüegsegger: Die Geschichte der Angewandten Psychologie 1900-1940. Ein internationaler Vergleich am Beispiel der Entwicklung in Zürich. Bern: Huber 1986 (Diss. Universität Zürich 1985). Severin Müller: Arbeit. Zur philosophischen Erhellung ihrer neuzeitlichen Genese. Freiburg: Alber 1986.
(Januar 1988)
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