Home Trieberfüllung ohne Aufwand

 

 

Manuskript für einen Volkshochschulkurs „Entscheiden und Verantworten im Alltag“, Sommer 1987

18.5.87

 

 

… Das letzte Mal habe ich von unserem Thema nur die Entscheidung behandelt. Heute kommt die Verantwortung dran. Der Titel lautet: "Trieberfüllung ohne Aufwand". Ich bin unterdessen noch zu einem böseren Titel gekommen: "Die Welt als Selbstbedienungsladen".

 

Dass wir zu solchen Formulierungen kommen können, hat eine lange Vorgeschichte. Und wie überlall entdecken wir dabei eine Polarität. Es ist das lästige „Einerseits – anderseits“ oder „Sowohl - als auch“, das die ganze Weltgeschichte durchzieht.

 

Wir haben auf der einen Seite den biblischen Auftrag: "Machet euch die Erde untertan" (1. Mos. 1,28ff), und auf der andern Seite: "Im Schweisse deines Angesichts sollst du dein Brot essen" (1. Mos. 3,19).

 

Das sind -- um eine Unterscheidung vom letzten Mal aufzunehmen - keine Beschreibungen, sondern Vorschriften. So soll es sein. Und ich habe darauf hingewiesen, dass es gefährlich ist, ohne vorherige Beschreibung gleich zum Vor-schreiben zu kommen.

 

„Ora et labora“

 

Wir wollen nicht allzulang in der Geschichte verweilen. Doch können wir festhalten: Offenbar bot in biblischer Zeit die Erde natürliche Güter in Hülle und Fülle, und diese waren dazu geschaffen, dass der Mensch sie nutzte. Für diese Chance sollte der Mensch sich einerseits im Gebet bedanken, anderseits erforderte die Nutzung Arbeit. Der Mensch war ja aus dem Paradies vertrieben worden; die Welt war kein Schlaraffenland mehr, wo einem die gebratenen Tauben einfach ins Maul flogen.

 

Um 500 nach Chr. fasst dies Benedikt von Nursia in das einfache Gebot: "ora et labora", bete und arbeite!

 

Diesem Gebot wurde mehr als 1000 Jahre nachgelebt. Während dieser Zeit passierte aber etwas Merkwürdiges. Die Autorität der Bibel und vor allem der vielen Theologen, welche die Bibel auslegten, wurde in Frage gestellt. Zuerst nur von einzelnen, dann von immer mehr aufrührerischen Geistern.

 

Ein erstes Ergebnis war die Renaissance in Italien. Der Mensch entwickelte ein Selbstbewusstsein. Sosehr dass er formulieren konnte: Gott hat den Menschen in die Mitte der Welt gestellt und ihm soviele Gaben gegeben, dass er daraus etwas Gutes oder etwas Schlechtes machen kann.

Ein deutliches Freiheitsgefühl war die Folge. Jeder machte nur noch, was er wollte und war auf seinen eigenen Vorteil bedacht, sogar die Päpste. Das rief kurz nach 1500 die Reformation hervor, eine Besinnung auf die Bibel und den Glauben. Die katholische Kirche musste darauf antworten: Sie tat es mit der Reform des Papsttums und der Gegenreformation. Diese Gegenbewegung war heftig und brutal. Wer nicht spurte, wurde umgebracht.

 

Diese Reformen hielten nur etwa 100 Jahre an, etwa bis in die Mitte der Barockzeit. Um 1650 lösten sich die Menschen endgültig aus der religiösen Bindung. Man gab sich "aufgeklärt". Daher heisst die nachfolgende Zeit, das 18. Jahrhundert, auch "Aufklärung" Erneut trat der Mensch in den Mittelpunkt, sein wissenschaftliches, politisches und wirtschaftliches Streben.

 

Die Wurzeln zum Religiösen und zur Tradition wurden abgeschnitten

 

Das ist bis heute die Grundlage unserer Welt geblieben. Es hat zu enormen Erfolgen in Technik und Wohlstand geführt. Aber die Wurzeln zum Religiösen waren weitgehend abgeschnitten. Daher hinkte die moralische Entwicklung den Errungenschaften des wissenschaftlich-technischen Fortschritts hinterher. Die Greueltaten des Zweiten Weltkriegs sind ein betrübliches Zeugnis dafür. Seither wissen wir, wozu der Mensch fähig ist.

 

Eine kurze Aufbauphase folgte. Sie war vor allem wirtschaftlich und technisch. Sie erforderte Berufsarbeit von Vätern - und Müttern. Zuhause und auf der Strasse blieben die "Schlüsselkinder". Niemand vermittelte ihnen mehr das, was seit Jahrtausenden Eltern oder Grosseltern den nachfolgenden Generationen übermittelt hatten: Tradition.

 

Tradition hat, wie alles, ihre Gefahren, aber auch ihre guten Seiten. Psychologisch gefährlich sind der religiöse Zwang und die rigorose Moral, die oft eine Doppelmoral ist. Positiv zu sehen ist dagegen die Besinnung auf die ungeheueren Leiden, aber auch Leistungen der Menschen sowie die Vermittlung von lebenspraktischen Regeln.

 

Mit dem Zweiten Weltkrieg ist also der Traditionsfaden gerissen. In den 60er Jahren wurde das deutlich. Hier entstanden die Grundmuster auch für unsere jetzigen Verhältnisse. Die "vaterlose Gesellschaft", die Alexander Mitscherlich 1963 beschrieb, ist auch eine mutterlose und traditionslose Gesellschaft.

 

Die Befreiung des Menschen bedeutete also zuerst im späten Mittelalter, dann erneut im Barock: sich frei machen von der Religion; seit dem Zweiten Weltkrieg bedeutet es zusätzlich: sich frei machen von Tradition überhaupt.

 

Der Schein des Wohlstandes

 

Auf diesem ganz grob skizzierten Hintergrund sind die Probleme Verantwortung und "Trieberfüllung ohne Aufwand" zu sehen. Wir wissen doch heute gar nicht mehr, was Verantwortung heisst. Aber Trieberfüllung ohne Aufwand ist unser Ziel. Und weil das nicht möglich ist, verfallen wir in Resignation oder gar Depression.

 

Hinter dem Wunsch, Bedürfnisse zu befriedigen ohne Aufwand steckt zweierlei:

1) der Individualismus oder Egoismus, der sich seit bald 1000 Jahren herausgebildet hat.

2) der trügerische Schein des Wohlstandes, der sich mit dem "Wirtschaftswunder" der Nachkriegszeit ausgebreitet hat.

 

Dieser Schein hat vor allem die "Schlüsselkinder" geblendet.

Die Eltern haben ihnen materielle Geschenke gemacht, statt ihnen Liebe zu geben. Je weniger die Eltern Zeit für ihre Kinder hatten, desto mehr haben sie sie mit Geld und Gütern überhäuft. Das geschieht heute noch. Es erzeugt aber die Illusion, alles sei leicht zu haben. Im Endeffekt kommen die jungen Menschen zur Ansicht, die Welt sei ein Selbstbedienungsladen. Man müsse sich nehmen, was da vorhanden sei. Wer es produziert und bezahlt, wird nicht gefragt.

 

Das Fernsehen unterstützt diese Meinung auf zwei Weisen:

1) Durch Knopfdruck bringt es "die ganze Welt ins Haus".

2) Es vermittelt die Illusion, wer nur ein bisschen singen oder tanzen könne, werde leicht ein gefeierter Star. "Die oder der da, auf dem Bildschirm, die oder der könnte ich eigentlich auch selber sein."

 

Was ist da verlorengegangen? Der Sinn für Zusammenhänge. Zum Beispiel dafür, dass Mutter und Vater arbeiten müssen, damit sie den Kindern "alles (materielle) geben" können und dafür weniger zu Hause sind. Dass andere Menschen, irgendwo, diese Güter erzeugen. Dass auch das Fernsehen einen enormen apparativen und personellen Aufwand erfordert. Dass Stars, die nicht nur Eintagsfliegen sind, hart an sich arbeiten müssen.

 

Verantwortung heisst: Zusammenhänge sehen

 

Das führt uns direkt zur Entscheidung zurück und zur Verantwortung. Ich habe das letzte Mal formuliert: Jede Entscheidung ist brutal, weil sie Möglichkeiten vernichtet, und: Jede Entscheidung stellt Forderungen, insbesondere die Forderung, etwas zu tun. Vernichtung und Forderung betreffen dabei die Person selber, aber auch andere Menschen. Diesen Zusammenhang sehen heisst: Verantwortung.

 

Beim Beispiel der berufstätigen Eltern ist der Fall einfach:

Der Entscheid, dass der Vater auswärts berufstätig ist vernichtet die Möglichkeit des gemeinsamen Mittagessens. Der Entscheid, dass auch die Mutter einer Tätigkeit ausserhalb des Hauses nachgeht, vernichtet die Möglichkeit, das sie zu Hause ist, das Kind selber betreut, mit ihm spielt, usw.

 

Diese Entscheidungen stellen aber auch Forderungen: Vater und Mutter müssen im Beruf arbeiten, mitunter soviel, dass sie am Abend erschöpft sind und nur noch ihre Ruhe haben möchten. Aber auch an das Kind werden Forderungen gestellt: Es muss sich mit sich selber beschäftigen, was es entweder noch nicht kann oder nicht durch elterliche Anleitung gelernt hat. Es muss seine spontan auftauchenden Fragen, Gefühle, Nöte zurückhalten, bis die Eltern zurück sind. Usw.

 

Solche und viele andere Zusammenhänge überdenken, heisst elterliche Verantwortung. Zwei Probleme tauchen dabei oft auf:

1) das Gefühl des elterlichen Ungenügens, der Schuld.

2) die Erkenntnis oder die Forderung des Verzichts.

 

Schuldgefühle der Mütter wurden immer wieder diskutiert, desgleichen Verzicht. Muss sie, wenn sie berufstätig sein möchte oder gerne ohne Kind die Freizeit und Ferien verbringt, also nicht auf die Erfüllung ihrer Bedürfnisse verzichtet, sich schuldig gegenüber dem Kind fühlen? Bei Vätern wird weniger von Verzicht und Schuld gesprochen.

 

Ich schneide diese Fragen nur an; wir werden nach der Pause sicher darüber diskutieren.

 

Berufstätige Eltern fordern vom Kind auch Verzicht. Dabei meine ich nicht den Verzicht unter dem moralischen Drohfinger, etwa: Du sollst nicht schreien, schmieren, zappeln, Sachen herumwerfen, zwängen, usw. Sondern, wie ich erwähnt habe, Verzicht auf Spontaneität, Verzicht auf un-kontrolliertes Sich-versenken in Spass und Spiel, Verzicht auf risikohafte Erkundung der Welt überhaupt. Verzichtet das Kind aber nicht darauf, kann es in Schuld geraten. Nicht unbedingt in seiner eigenen Perspektive, aber in den Augen der Eltern oder der Umwelt.

 

Braucht es eine „Verzichtmathematik“?

 

Bei solchen Überlegungen kann der Gedanke einer Verzichtmathematik auftauchen. Wir, insbesondere Eltern, aber auch grössere Kinder, müssen zu rechnen anfangen. Das ist etwas drastisch formuliert, aber es trifft die Sache. Wir müssen sie nur einordnen in das, was ich das letzte Mal von der Entscheidung gesagt habe. Entscheidung erfordert ein Abwägen von Kosten, Aufwand und Ressourcen auf der einen Seite, Nutzen auf der andern Seite.

 

Ich habe nicht gesagt, es gebe nur materiellen Aufwand, genauso wenig wie es nur materiellen Nutzen gibt. Aber die Entwicklung unserer gesellschaftlichen und geistigen Welt seit dem Zweiten Weltkrieg hat dazu geführt, dass wir fast nur noch das Materielle sehen. Das hat zwar vor etwa 10 Jahren zu einer Gegenbewegung, zu einem Psycho-Boom geführt, doch ist es uns nicht gelungen, Materielles und Seelisches zusammen zu sehen und gleichzeitig abzuwägen.

 

Vielleicht haben wir auch etwas von Netzen gehört.

Ebenfalls vor etwa 10 Jahren tauchte die Idee der "kleinen Netze“ auf. Frederic Vester propagierte das "vernetzte Denken". Doch wer hat das ganz persönlich genommen, auf sich bezogen? Ich habe das letzte Mal gesagt:

Wir stecken alle in Netzen. Unzählige Entscheidungen haben andere für uns schon getroffen; wir haben Netze für uns selber gestrickt und - wir stricken Netze für andere: Folgennetze überall. Diese Netze dürfen wir nicht aus den Augen verlieren.

 

Ein kleines Beispiel: Eine Hausfrau, ein Geschäftsmann fährt auf das Trottoir, um vor dem Einkaufsgeschäft zu parkieren. "Nur mal schnell", heisst die Begründung. Was sind die Folgen: Die Möglichkeit, dass Fussgänger, alte und junge, sich ungefährdet auf dem Trottoir bewegen können, wird eingeschränkt. Die Welt wird, an einem ganz kleinen Ort, bedrohlicher.

Für sich selber vernichtet der Automobilist die Möglichkeit, ein paar Schritte zu Fuss zu gehen und damit etwas ganz Kleines für seine Gesundheit zu tun. Das Fahren auf dem Trottoir stellt Anforderungen: Der Automobilist müsste aufmerksamer sein, langsamer fahren. Ist er dazu bereit? Und was für Forderungen stellt er an die andern? Sie müssen mehr als sonst auf dem Trottoir aufpassen, dürfen nicht mehr in Gedanken versunken dahinschlendern, müssen Platz machen. Oft ist, was der Trottoirfahrer von andern verlangt, eine richtige Zumutung. Überdies können Hunde und Kinder, Alte und Behinderte, diese Zumutung gar nicht wahrnehmen. Weil sie die Ressourcen dazu nicht haben. Der Automobilist hat die Ressource: Das Auto mit Motor. Was ist eigentlich dabei der Nutzen?

 

Ersparnis von Muskelkraft und Zeit, ein Machtgefühl, andere wegscheuchen zu können, Prestige, indem man zeigen kann, was man für einen Wagen fährt? Lohnt es sich, dafür andere zu gefährden, ihnen etwas Raum - Freiraum, Trottoirraum - wegzunehmen?

 

Sie sehen, schon bei einem solchen alltäglichen Beispiel kommt man dazu, dass man die Faktoren der Entscheidung bedenken und abwägen müsste. Es gibt Hunderte von anderen ähnlichen Beispielen. Damit man nicht bei jedem das ganze Spiel des Abwägens durchmachen muss, hat man einst Gesetze geschaffen, z. B. das Strassenverkehrsgesetz.

 

Aber nicht nur das: Anstand war auch einmal dafür gedacht, die Entscheidungsüberlegungen zu verkürzen, das Zusammenleben zu erleichtern.

 

Mein Nutzen – Ihr Nutzen

 

Nun gibt es auch andere Beispiele, positive. Vielfach hängt z. B. mein persönlicher Nutzen vom Nutzen ab, den ich andern biete. Nehmen Sie unseren Kurs hier. Mein Nutzen besteht darin, dass ich Freude habe, wenn ich Ihnen etwas bieten kann, wenn wir nachher eine angeregte Diskussion führen. Das erfordert allerdings, dass ich Ihnen tatsächlich etwas biete, und dazu treibe ich einen ansehnlichen Aufwand an Vorbereitungsarbeit. Das Risiko des Misslingens ist vorhanden. Ich kann das mindern, indem ich nur während der ersten Stunde das Vorbereitete vortrage und in der zweiten Stunde Ihre Fragen beantworte, weiter aushole, erläutere usw. Da werden etwas andere Ressourcen gefordert als in der ersten Stunde.

 

Umgekehrt hängt auch Ihr Nutzen davon ab, was Sie mir für eine Freude verschaffen. Wenn Sie fragen, nachfassen, eigene Erfahrungen einbringen, dann tun Sie das. Ich werde einiges in die Zusammenfassung einflechten, die ich das nächste Mal abgebe. Ich kann auch Anregungen in meinen nächsten Vortrag einbauen.

Sie sehen also: Man kann gemeinsam an einem gemeinsamen Nutzen arbeiten. Wenn man das weiter ausspinnen würde, käme man zu einem gemeinsamen Nutzennetz. Das ergäbe schliesslich meine Definition für "allgemeine Wohlfahrt": ein gemeinsames Nutzennetz für alle.

 

Wir könnten ins Träumen geraten. Das wollen wir hier nicht. Denken Sie wieder an die Autofahrer. Wir sind ja fast alle auch Autofahrer. Ich sage, "auch Autofahrer", weil der Mensch von Natur aus erst einmal ein Fussgänger ist. Als Autofahrer aber sind wir alle Sünder. Wir vernichten Möglichkeiten für uns und andere und die Umwelt, und wir stellen Forderungen an uns und andere und an die Umwelt.

 

Die Situation, in der wir heute stecken, ist irgendwie nicht erfreulich. Unser Individualismus hat zu Schäden aller Art geführt, bei uns und bei andern, sogar in der Natur. Die Schäden sind seelischer und materieller Art.

 

Das falsche Verständnis von Verantwortung

 

Ein Grund dafür liegt in unserem falschen Verständnis von Verantwortung. In den verbreiteten katholischen und kommunistischen Wörterbüchern der Philosophie kommt das Wort schon gar nicht vor. Es scheint kein philosophischer Begriff zu sein. Es ist offenbar ein moralischer, juristischer oder politischer Begriff. Dabei ist zumindest die Moral nicht nur im religiösen Bereich zu Hause, sondern auch im philosophischen.

 

In juristischer Sicht wird Verantwortung meist mit Zurechnung in Verbindung gebracht: Eine Tat wird einer Person zugerechnet. Das ist vor allem von Belang, wenn etwas schief gelaufen ist, bei einem Unglück, bei einem Verbrechen, oder wenn jemand ertappt worden ist bei etwas, was er nicht hätte tun sollen. Es ist also eine Verantwortung im Nachhinein. Ähnlich ist es in der religiösen Sicht: Der Mensch ist verantwortlich für seine Verfehlungen, seine Sünden, die er begangen hat.

 

Verantwortung im voraus

 

Was uns fehlt. ist ein klares Bild der Verantwortung in vorausblickender Perspektive. Verantwortung für das, was wir tun oder unterlassen werden. Das hängt damit zusammen, dass wir gar nicht so gerne vorausschauen und das auch gar nicht so gewohnt sind. Gewiss, unsere egoistischen Tagträume, Wünsche, Sehnsüchte gehen oft weit in die Zukunft. Aber die Überlegungen, was wir dafür vernichten müssen und von uns und andern fordern, gehen selten weit voraus. Genau das aber wäre echte Verantwortung.

 

Dabei ist das Vorausschauen nicht so schwierig, wie es den Anschein hat. Wir haben nämlich ein gutes Hilfsmittel dafür, das ist die Erfahrung, und zwar unsere eigene und diejenige anderer Menschen. Im allgemeinen stellen wir viel zuwenig darauf ab.

 

Denken Sie wieder an die berufstätigen Eltern. Vater und Mutter könnten sich doch leicht überlegen, woran es ihnen in ihrer Jugend gemangelt hat, und was ihnen Freude gemacht hat. Waren es wirklich die teuren Geschenke?

 

Manche haben eine Scheu, in ihre eigene Kinder- und Jugendzeit zurückzublicken. Dann können sie aber immer noch Erfahrungen anderer ernst nehmen. Es gibt einerseits Biographien und Bekenntnisse zuhauf, anderseits psychologische Literatur. Solche mit aufnahmebereitem und kritischem Gemüt zu lesen, kann Anstösse geben, Entscheidungen zu überdenken und neue zu treffen.

 

Ich wiederhole: Es gibt Verantwortung im Nachhinein und solche zum voraus. Die Verantwortung für die Zukunft erfordert ein Denken in Zusammenhängen: Kosten, Aufwand, Mittel, Nutzen für sich und andere.

 

Aufgabenverantwortung

 

Nun findet man, etwa in der Zeitung, in Parteiprogrammen oder in der Management-Literatur weitere Arten von Verantwortung. Früher, also vor 20, 30 Jahren, war viel von Aufgabenverantwortung die Rede. Dabei ging man davon aus, dass ein Vorgesetzter seinen Mitarbeitern Aufgaben zuteilt und im Idealfall die dazu nötigen Kompetenzen oder Entscheidungsbefugnisse. Der Mitarbeiter musste dann die Verantwortung übernehmen, die Aufgabe richtig zu lösen.

Dabei sah man ein interessantes Phänomen: Der Chef konnte zwar Aufgaben teilen, den Mitarbeitern zuweisen und ihnen Kompetenzen zugestehen, aber die Gesamtverantwortung blieb bei ihm. Noch drastischer: Die Verantwortung kann zwar auf Mitarbeiter aufgeteilt werden, aber die Gesamtverantwortung, die sog. "volle" Verantwortung des Chefs, wird dabei nicht kleiner.

 

Selbstverantwortung

 

Das hat nie so richtig geklappt. Daher hat man einen Ausweg gefunden. Man fordert jetzt Selbstverantwortung, Eigenverantwortung, persönliche Verantwortung. Das klingt ebenso schön wie nichtssagend, solange man sie nicht präzisiert.

 

Soziale Verantwortung

 

Auch ein zweiter Ausweg hat nicht so richtig Anklang gefunden: soziale Verantwortung, Verantwortung für den Nächsten. Einesteils steckte dahinter die biblische Forderung der Nächstenliebe, was nicht mehr modern tönt, andernteils beruht sie auf der Erkenntnis, dass die Menschen, wohl oder übel zusammenleben und, gewollt oder ungewollt, aufeinander angewiesen und voneinander abhängig sind.

 

Umweltverantwortung

 

Neuerdings hat man noch eine weitere Verantwortung entdeckt: diejenige für die Umwelt, ja für das ganze Leben, die Schöpfung.

 

Das ist schon ein ganz schöner Haufen: Der Mensch soll für die ihm zugewiesenen Aufgaben, für sich selber, für die andern und sogar für die Schöpfung, kurz, für alles verantwortlich sein. Warum eigentlich?

 

Verantwortung vor andern Menschen

 

Das Beispiel der Aufgabenverantwortung zeigt, dass es nicht nur eine Verantwortung für, sondern auch eine Verantwortung vor etwas gibt. Der Mitarbeiter ist verantwortlich vor seinem Chef, dem Auftraggeber. Beide, Mitarbeiter und Chef, sind verantwortlich gegenüber der Firma, dem Betrieb. Das ist eine etwas abstrakte Grösse, doch sie bildet eine Brücke zu einem Gegenüber: dem externen Auftraggeber, dem Kunden, Klienten, Mandanten. Das wird heute oft vergessen, vor allem bei den Bemühungen um die "Humanisierung der Arbeitswelt". Nicht nur der Chef verlangt etwas von einem, sondern auch die Käufer, Bankkunden, die Bürger am Schalter.

Nicht für diese, aber vor diesen ist der arbeitende Mensch verantwortlich.

 

Verantwortung vor der Gemeinschaft, vor der Schöpfung, vor Gott

 

Das kann man wiederum ausweiten: Es gibt eine Verantwortung vor der Gemeinschaft, vor allen Menschen, ja noch mehr, vor dem Leben, der Schöpfung. Ungleich mehr Leute als heute fühlten sich einst vor Gott verantwortlich. Dies aus der Erkenntnis heraus, dass der Mensch nur zum Teil selbst schafft, was er als seine Leistung betrachtet.

 

Es ist hier nicht der Ort, allzu religiös zu werden. Manches, was früher Gültigkeit besass, ist heute nicht mehr gefragt. Wir bewegen uns auf einem niedrigeren Niveau. Aber auch hier gilt der eben geäusserte Satz, dass der Mensch nur zum Teil selber schafft, was er als seine Leistung betrachtet. Zum einen betrifft das die Güter des täglichen Lebens. Viele, viele Menschen arbeiten daran. Wir sind also auf deren Arbeit angewiesen, genauso wie sie auf unsere Arbeit angewiesen sind. Zum andern betrifft das die Ressourcen der Natur, das Leben überhaupt. Sie sind nicht unsere Leistung, aber wir sind darauf angewiesen.

 

Solche Zusammenhänge sehen, vertiefen, ernst nehmen und sie in die täglichen Entscheidungen einfliessen lassen, heisst „erantworten“

 

Diskussion

 

Ich habe wiederum in der vorherigen Stunde recht abstrakt referiert, nun können wir konkreter werden.

 

Im ersten Drittel habe ich ganz grob skizziert, wie es zum Selbstbedienungsladen-Denken gekommen ist. Als Grund habe ich genannt: Das Überhäufen von Kindern mit materiellem Wohlstand und das scheinbar mühelose Starwesen am Fernsehen gaukeln der Jugend vor, alles sei leicht zu haben. Der trügerische Schein entsteht, man könne sich einfach alles nehmen. Was dahinter, an Arbeit und Geld steckt, wird nicht gesehen und auch nicht bedacht.

 

Im Mittelteil habe ich auf die frühere Charakterisierung der Entscheidung zurückgegriffen, Vernichtung und Forderung. Jede Entscheidung vernichtet andere Möglichkeiten und stellt Forderungen, und zwar sowohl für die entscheidende Person als auch für andere.

Entscheidungen verlangen daher ein Abwägen von Kosten, Aufwand, Ressourcen und Nutzen. Dabei hängen diese untereinander zusammen. Auch der Nutzen, mag ich ihn noch so egoistisch betrachten, ist fast 'immer abhängig von andern Menschen oder der Umwelt. Durch jede meiner Entscheidungen beeinflusse ich Kosten, Aufwand, Ressourcen und Nutzen anderer Menschen - und der Natur.

 

Im letzten Drittel habe ich die Sache Verantwortung etwas genauer unter die Lupe genommen. Es gibt Verantwortung im Nachhinein, aber auch eine solche voraus. Von dieser wollen wir hier sprechen. Sie erfordert das Denken in Zusammenhängen.

 

Bei näherem Hinsehen zeigt sich überdies, dass es Verantwortung für und Verantwortung vor gibt. „Für“ und „vor“ gehen sprachlich auf dieselbe Wurzel zurück. Das zeigt sich auch, wenn man die ganz gross Zusammenhänge ins Auge fasst: Verantwortung für das Leben, die Schöpfung ist auch Verantwortung vor dem Leben, vor der Schöpfung. Denn: über die Schöpfung sind wir Menschen nicht Herr.

 


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