Der
Mechanismus des bürokratischen Bösen
Zu Stanley Milgrams Experimenten über die
Gehorsamsbereitschaft
"Ich sagte mir: 'Lieber
Gott, jetzt ist er tot; also schön, bringen wir ihn ganz
um'. Und ich machte einfach so weiter bis zu 450
Volt".
Das sagte der Inspektor der Wasserwerke von
New Haven, nicht in My Lai, sondern in seiner Heimatstadt, nachdem
er an einem Experiment der Psychologischen Fakultät der Yale
Universität teilgenommen hatte. Und er befand sich mit seiner
Aussage in der guten Gesellschaft zahlreicher normaler,
freundlicher und liebenswürdiger Menschen.
Eine preisgekrönte wissenschaftliche Arbeit
Diese Experimente haben
weitherum Aufsehen erregt. Begonnen hat sie der damals
27jährige Stanley Milgram im Jahre 1960, abgeschlossen
wurden sie 1963. Ein Jahr später erhielt Milgram den
jährlichen sozialpsychologischen Preis der American
Association for the Advancement of Science.
Erste Berichte über
das Experiment veröffentlichte er 1963 bis 1965. Fast zehn
Jahre später - weshalb wohl? - schloss er in einem
einjährigen Urlaub in Paris sein Buch "Obedience to
Authority. An Experimental View" ab, das 1974 erschien und
sofort in Deutsch mit dem Titel "Das Milgram-Experiment. Zur
Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität" bei
Rowohlt herausgekommen ist (Neuere Auflagen beider Ausgaben noch
1997.)
Die Lektüre dieses
ausserordentlich leichtverständlichen Berichts, die keine
psychologischen Vorkenntnisse erfordert und deshalb ein grosses
Publikum in Erstaunen versetzen dürfte - und muss! -, vermag
das schiefe Bild aus Gerüchten und Verunglimpfungen,
Fehlinterpretationen und schlichter Leugnung wieder ins Lot zu
stellen.
Dis Ergebnisse dieses sehr
sorgfältig durchgeführten Experimente gehen jeden an. Vor
vier Jahren konnte sie David Mark Mantell am Max Planck-Institut
für Psychopathologie und -therapie in München für
Deutschland bestätigen.
Ein "Schüler" auf dem elektrischen. Stuhl
In 18 Variationen baute
Milgram eine Untersuchungssituation auf, die "das Wesen des
Gehorsams im Kern erfasst". Dies geschah "ausdrücklich mit der
Absicht, zu einem besseren Verständnis der komplexen
Zusammenhänge vorzudringen, und nicht, um von höherer
Warte aus moralische Werturteile zu verkünden".
Die Grundsituation war
höchst einfach Insgesamt über ein halbes Tausend
Männer aller Bevölkerungsschichten aus New Haven - in nur
einem Fall aus der nahegelegenen Industriestadt Bridgeport, in
einem andern Fall 40 Frauen -, die sich freiwillig gemeldet hatten,
wurden von einem Versuchsleiter in grauem Kittel - der
Autoritätsperson -empfangen und dahingehend informiert, es
gehe um die wissenschaftliche 'Erforschung von
Gedächtnisleistung und Lernvermögen, und zwar unter
Anwendung von Strafe, da es darüber bislang fast keine
wissenschaftlichen Untersuchungen am Menschen gebe. Im Mittelpunkt
des Interesses stehe also das Verhältnis
Lehrer-Schüler.
In den meisten Fällen
wurde es so eingerichtet, dass ein gleichzeitig mit der
"Versuchsperson" eingetroffener Mann, angeblich ebenfalls eine
Versuchsperson, in Wirklichkeit ein Helfer des Versuchsleiters, den
"Schüler" spielen musste, infolgedessen wurde die
Versuchsperson zum "Lehrer", Der Helfer war ein eigens für
seine Rolle ausgebildeter, sympathischer
siebenundvierzigjähriger Buchhalter.
Sofort nach der Verlosung
wurden Lehrer und Schüler in einen Nebenraum gebracht und der
Schüler an eine an einen "elektrischen Stuhl" erinnernde
Apparatur gefesselt. Am Handgelenk des Schülers wurden
Elektroden befestigt, nachdem Salbe aufgetragen worden war, "um
Blasen und Verbrennungen zu vermeiden".
Der Versuchsperson (also
dem Lehrer) wurde klar gemacht, dass die Elektrode mit einem
Schockgenerator im andern Baum verbunden sei, wohin man sich
zurückbegab. Jede Versuchsperson hatte vorher noch einen
Probeschock von 45 Volt erhalten, damit sie sich von der Echtheit
der Anordnung überzeugen konnte.
Der Schockgenerator bestand
aus einem Kasten mit dreissig Kippschaltern. Die Beschriftung
zeigte von links nach rechts eine Spannungserhöhung von 15 bis
450 Volt, in Schritten von 15 Volt. Jeweils vier Schalter trugen
der Reihe nach die Aufschriften: Leichter, Mässiger,
Mittlerer, Kräftiger, Schwerer, Sehr schwerer Schock; hernach
"Gefahr: Bedrohlicher Schock".
Die zwei letzten Schalter
trugen nur noch die Markierung: "XXX". Bei Betätigung der
Schalter leuchteten zudem verschiedene Lämpchen auf, Zeiger
bewegten sich und Relais klickten.
Der Auftrag der
Versuchsperson bestand darin, Wortpaare vorzulesen, die der
Schüler richtig kombinieren musste. Seine Antwort liess in
einer vierteiligen Box auf dem Schockgenerator ein Feld
aufleuchten. Bei jeder falsch gelösten Aufgabe hatte der
Lehrer (also die echte Versuchsperson ) dem Schüler einen
Schock zu verabreichen, und zwar jedesmal auf der
nächsthöheren Stufe. Ausserdem musste die jeweilige
Voltzahl vor Verabreichung dem Schüler mitgeteilt
werden.
Nur eine pathologische Randgruppe?
Man könnte nun denken,
solches wäre jedem Erwachsenen ein Greuel. Weit gefehlt. Von
556 Freiwilligen weigerten sich nur zwei, auch den niedrigsten
Schock auszuteilen. Jedenfalls aber würde sich niemand zu
bedrohlichen Elektroschocks hergeben, könnte man meinen.
Ebenfalls gefehlt.
Was das Experiment zeigte,
stellte die kühnsten Erwartungen der Forscher weit in den
Schatten - auch diejenigen von Normalbürgern. Milgram hatte
nämlich 110 Personen (die selbst nicht am Versuch teilnahmen)
in Vorträgen detailliert über Gestaltung und Aufgabe des
Experiments unterrichtet. Nachher wurden sie gefragt, wie sie sich
als Versuchsperson verhalten würden. Keine wäre über
300 V (den höchsten "Schweren Schock") und nur 11 wären
über 180 V (den höchsten "Mittleren Schock")
gegangen.
Über das Verhalten
anderer Menschen befragt, meinten sie, nur "eine pathologische
Randgruppe, die nicht mehr als ein oder zwei Prozent betragen
würde", ginge bis ans Ende der Schockskala. Die Psychologen
meinten gar: nur ein Promill.
Der erste Versuch bedeutete
selbst für Milgram einen Schock. Das "Opfer" befand sich
unsichtbar im Nebenraum. Bei 300 und 315 Volt hämmerte es
an die Wände, so dass sie dröhnten; dann blieb es
wieder still. 65 % aller Versuchspersonen gaben dreimal den
Maximalschock von 450 Volt...
So begann Milgram die
Versuchsanordnung systematisch zu variieren. Bei den meisten
Versuchen konnte der Lehrer den Schüler fortan durch eine mit
Folie beklebte Glasscheibe wahrnehmen. Die Proteste des Opfers
wurden ständig gesteigert: Es flehte den "Lehrer" und den
Versuchsleiter an, es stöhnte, ächzte, schrie gellend,
aus Leibeskräften, wurde hysterisch, verweigerte die Antwort
und verstummte schliesslich bei 360 Volt.
All dies fruchtete nichts.
Stets etwa die Hälfte der Versuchspersonen gab Schocks
bis zum Maximum.
Sogar trotz des Hinweises
des wimmernden Opfers auf einen Herzfehler gingen 65 % bis zur
höchsten Stufe - und "keine Versuchsperson, die bis
Schockhöhe 30 (also 450 V) ging, weigerte sich, sie weiter zu
benützen".
Genau dasselbe ergab sich bei Frauen, egal
ob Krankenschwestern oder Sozialhelferinnen. Alle waren sie
gebannt, ihre Aufgabe möglichst zuverlässig, genau und
vollständig zu erfüllen.
Eindringliche Befehle, aber kein Zwang
Nun kann man einwenden, die
Versuchspersonen seien mehrfach betrogen worden: Sie meinten, es
ginge um den "Schüler", dabei ging es um ihr Verhalten.
Sie waren falsch über das Experiment unterrichtet worden, bei
der Auslosung wurde gemogelt (der Helfer wurde immer
"Schüler") und das "Opfer" erhielt in Wirklichkeit gar keine
Schocks.
Doch diese Täuschung
oder Manipulation ändert nichts an dem, was in dieser banalen
Situation erforscht werden sollte: die Gehorsamsbereitschaft
von normalen Menschen gegenüber einer legitimierten
Autorität, die befiehlt, andern normalen Menschen Schmerzen
zuzufügen.
Dabei, das muss betont
werden, wandte der Versuchsleiter weder physischen Zwang an, noch
drohte er mit irgendwelchen Repressalien, sondern er gab nur
Anweisungen wie etwa: "Bitte fahren Sie fort", oder: "Sie
müssen unbedingt weiter machen".
Wenn die Versuchsperson
fragte, ob für den Schüler die Gefahr einer bleibenden
körperlichen Schädigung bestehe, wiederholte der
Versuchsleiter die schon bei der Instruktion gemachte Beteuerung:
"Die Schocks mögen schmerzhaft sein, sie hinterlassen aber
keine bleibende Gewebsschädigung. Machen Sie also
weiter!"
Weigerte sich der "Lehrer"
weiterzufahren, fuhr der Versuchsleiter das stärkste
Geschütz auf: "Ob es dem Schüler passt oder nicht, Sie
müssen weitermachen, bis er alle Wortpaare exakt gelernt hat!"
Erst wenn sich die Versuchsperson weiter widersetzte und aufstand,
galt der Versuch als abgebrochen.
Damit ist das
Schlüsselwort gefallen: Weigerung.
Selbstverständlich hätte jede Versuchsperson sich gegen
diese sturen Befehle zum Quälen auflehnen können. Und
Milgram hatte das am Anfang auch erwartet.
Dass diese Menschen es
jedoch nicht taten, oder wenn sie es taten, meist erst bei 150 Volt
(beim ersten starken und langen Protest des Opfers), das bedarf
einer Erklärung.
Autorität: Wahrnehmung, Akzeptierung und ideologische
Rechtfertigung
Der umfassende theoretische
Rahmen, den Milgram aus seinen Versuchsergebnissen abzuleiten oder
aufzubauen versucht hat, ist wenig überzeugend. Die doch recht
oberflächliche Vermischung von Ethologie und Evolution,
Kybernetik und Psychoanalyse lässt sowohl Konsequenz als auch
Homogenität vermissen.
Was Milgram aber
ausgezeichnet gelungen ist, das ist die Beschreibung von
säuberlich auseinandergehaltenen Einzelfaktoren, die bei der
Beantwortung der Frage "Warum Gehorsam?" eine Rolle
spielen.
Kernfaktoren sind etwa die
Wahrnehmung der Autorität, das Eintreten in ein
Autoritätssystem (Hierarchie), die Abgestimmtheit von
Befehlsinhalt und Funktion der Autorität sowie die
ideologische Rechtfertigung.
Milgram nennt diese vier
Faktoren die "unmittelbaren Vorbedingungen" für
Gehorsamsbereitschaft respektive die Versetzung des Menschen aus
einem Zustand des autonomen, selbstgesteuerten Verhaltens in einen
Agens-Zustand, in ein Funktionieren innerhalb einer
Organisation.
Er erläutert das im
einzelnen:
1. Im Unterschied zum Tier
lebt der Mensch nicht in Herrschaftsstrukturen, sondern in
Autoritätsstrukturen, die eher durch Symbole als durch
physische Gewalt vermittelt werden. Solche Symbole sind die
bekannten Statussymbole wie die Uniformen und Abzeichen - im
vorliegenden Fall ist es der graue Kittel des Technikers.
Darüberhinaus wird erwartet, dass "bestimmte
Situationen gewöhnlich auch eine soziale Kontrollfigur
haben": Befindet sich der Mensch in einem Flugzeug, ist dies der
Pilot, befindet er sich im Theater, ist es der Logenschliesser. Bei
einem Experiment erwartet die Versuchsperson demzufolge, "dass
irgendjemand die Leitung haben wird". Infolgedessen braucht der
Versuchsleiter seine Autorität gar nicht stark zu betonen, "er
muss sie nur identifizieren".
2. "Autoritätssysteme
sind häufig durch einen physischen Zusammenhang
begrenzt, und wir geraten oft unter den Einfluss einer
Autoritätsperson, wenn wir die physische Schwelle zu ihrem
Herrschaftsgebiet überschreiten."
Das ist mit obigem verbunden; bedeutsam ist jedoch der freiwillige
Eintritt in das Experiment respektive das Laboratorium. "Die
psychische Konsequenz der freiwilligen Beteiligung erzeugt ein
Gefühl von Verpflichtung und Pflicht, die in der Folge
eine wichtige Rolle in der Bindung der Versuchspersonen an
ihre Funktion spielen."
3. Der Befehl muss als der
Autorität angemessen betrachtet werden. Im vorliegenden
Fall "agiert die Versuchsperson innerhalb eines Rahmens,
nämlich des Lernexperiments, und betrachtet deshalb die
Befehle des Versuchsleiters als in sinnvoller Weise koordiniert mit
seiner Funktion".
4. Diese "Legitimität
des Anlasses" ist nun weiter "abhängig von ihrer Artikulierung
im Zusammenhang mit einer rechtfertigenden Ideologie".
Die Wissenschaft - wie im vorliegenden Fall - aber auch
"Institutionen wie das Unternehmertum, die Kirchen, die Regierung
und das erzieherische Establishment bieten legitime
Aktionsbereiche, deren jeder durch die Wertvorstellungen und
Bedürfnisse der Gesellschaft gerechtfertigt sind".
"Will man freiwilligen Gehorsam erreichen, ist die Ideologische
Rechtfertigung von entscheidender Wichtigkeit, weil sie der
betroffenen Person erlaubt, ihr Verhalten so zu sehen, als diene
sie mit ihm einem erstrebenswerten Ziel."
Kurz: Auf die beschriebene Weine erlangt der
Versuchsleiter "seine Fähigkeit, Verhalten beeinflussen zu
können, nicht durch Anwendung von Gewalt oder durch Drohung,
sondern kraft der Position, die er innerhalb einer sozialen
Struktur einnimmt". Seine Macht entsteht durch die Zustimmung
derer, über die er sich durch seine Selbstdefinition gesetzt
hat.
Sobald "diese Zustimmung einmal
ursprünglich gewährt ist, kann sie nicht automatisch oder
ohne grossen Aufwand widerrufen werden". Also gerät die
Versuchsperson in Konflikte, wenn sie gewahr wird, was sie tut,
nämlich einen völlig unbescholtenen Menschen entsetzliche
Schmerzen zufügen.
Spannung zwischen gegenläufigen
Kräften
Immer wieder kommt Milgram auf diese
Spannungsdynamik zurück: Die Versuchsperson ist einem
zunehmenden Stress ausgesetzt, steht sie doch unter zahlreichen
gegenläufigen Kräften wie
·
innere Hemmung, jemandem weh zu tun
·
Gewissen, Über-Ich, Selbstverantwortung
·
Schreien und Flehen des Opfers
·
Befehle des Versuchsleiters
·
Bemühen, die Aufgabe sorgfältig und
vorschriftsgemäss zu erledigen
·
Wunsch, dem Versuchsleiter zu helfen, ja zu gefallen
·
Gefühl der Verpflichtung gegenüber dem Versuchsleiter,
infolge der bereitwillig gegebenen Zusage, das Experiment
auszuführen
·
Angst, die Gefühle des Versuchsleiters zu verletzen, seine
Erwartungen zu enttäuschen
·
institutioneller Rahmen (Universität oder Forschungsinstitut)
usw.
Diese mit Schwitzen,
Zittern und gequältem Lachen verbundene Dynamik der Spannungen
und ihrer Auflösung entweder während oder nach dem
Experiment (bei einem verständnisvollen Gespräch) kann an
dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden.
Bemerkenswert ist aber
eines: die ungeheure Kluft zwischen Wort und Tat.
"Willkürherrschaft wird von unsicheren Menschen
aufrechterhalten, die nicht genügend Mut besitzen, ihre
Überzeugungen in Aktion umzusetzen. In unseren
Experimenten missbilligten die Versuchspersonen immer und immer
wieder ihre Verhaltensweise, brachten jedoch nicht die Kraft auf,
ihre Wertbegriffe in Aktion umzusetzen", resümiert
Milgram.
Wann wird Auflehnung möglich und realisiert?
Einige wenige Lichtblicke
zeigten sich bei bestimmten Variationen den Experiments. (Dass
Milgram daraus keine Konsequenzen in Richtung etwa einer
"Sozialtechnologie" zieht, mag bedauerlich sein. Es beruht auf
seiner beschränkten Absicht, zu verstehen und
aufzurütteln - was er immerhin erreicht hat.)
1. Wie sehr das Verhalten
der "Bösewichte" am Versuchsleiter und nicht am Opfer
orientiert war, zeigte sich, als der Versuchsleiter durch einen
fingierten Anruf abberufen wurde und im Bedarfsfall seine
Anordnungen per Telephon gab: "Nur" noch 20 % gaben den
Maximalschock.
2. Dass die
Aggressionstheorien das Verhalten der Versuchspersonen nicht zu
erhellen vermögen, zeigte sich, wenn es ihnen erlaubt wurde,
die Schockhöhen über die ganze Folge der Versuche selbst
zu bestimmen. Keine gab zwar keinen Schock, doch nur je eine gab
375 und 450 V; 28 von 40 gingen nicht höher als bis zur ersten
Unbehagensäusserung des Opfers (75 V), 10 weitere nicht
über den heftigen Protest hinaus (150 V).
3. Die Orientierung an
Autorität erhellte wiederum ein Experiment, bei dem es ein
"gewöhnlicher Mensch" - angeblich ebenfalls eine
Versuchsperson - war, der die Befehle erteilte: Nur 20 % gaben hier
den Maximalschock.
4. Verlangte gar das
"Opfer", obwohl es dabei schrie, hartnäckig nach weiteren
Schocks, um seine Männlichkeit unter Beweis zu stellen und das
Experiment bis zum Ende zu bestehen, riet der Versuchsleiter jedoch
davon ab, so lehnten auch alle Versuchspersonen dieses Ansinnen
ab.
5. Spielte bei einem
Rollentausch der Versuchsleiter das Opfer und gab ein
gewöhnlicher Mensch die Befehle, so brachen bei der ersten
Bitte der gefesselten Autoritätsperson alle Versuchspersonen
das Experiment ab.
"Der entscheidende Faktor ist (wiederum) die Reaktion auf
Autorität, und nicht so sehr eine Reaktion auf eine
spezifische Order ... Es ist nicht wichtig, was die
Versuchspersonen tun. Was zählt, ist, für wen sie
es tun."
6. Geraten zwei
Autoritäten in Konflikt, entzieht sich die Versuchsperson
sofort der Situation: Gaben zwei gleichgekleidete Versuchsleiter
widersprüchliche Befehle, indem sie Meinungsverschiedenheiten
vorspielten, hörten die Versuchspersonen schlagartig
auf.
7. War jedoch eine dieser
gleichrangigen Autoritäten das "Opfer", so ergab sich eine
Dichotomie: 30 % brachen beim ersten heftigen Protest ab, 65 % aber
gingen bis zum Maximalschock.
Der Gruppendruck
Bemerkenswert ist
schliesslich das Verhalten unter dem bekannten
Konformitätsdruck der Gruppe. Sass die Versuchsperson
zwischen zwei ihr gleichberechtigten "Lehrer" vor dem
Schockgenerator, und weigerten sich diese zwei, das Opfer gegen
seinen Willen, jedoch auf Veranlassung einer Autoritätsperson
zu bestrafen, so stiegen 60 % bis 210 Volt aus und nur 10 %
verabreichten den Maximalschock.
"Die Wirkung der Auflehnung
von Gleichrangigen auf die Beschneidung der Autorität des
Versuchsleiters ist sehr eindrucksvoll."
In der ganzen Versuchsreihe von Milgram gab
es keine Anordnung mit grösserer Auflehnung gegen
Autorität. Also folgert er kernig: "Der gegenseitige Halt, den
Menschen einander bieten, ist das stärkste Bollwerk gegen
Auswüchse der Autorität, das wir besitzen."
Die grösste Gefahr: Integration
Diese ungeheure
Chance wird freilich durch ein erschreckendes Gegenbeispiel
zunichte gemacht, das schonungslos den "Mechanismus des
bürokratischen Bösen" aufdeckt: Erledigt nämlich die
Versuchsperson nur Hilfstätigkeiten (z. B. an einem Nebentisch
die Schockdauer aufzeichnen) und befindet sich ein anderer
unbescholtener Mensch am Generator, so sehen und hören
über 90 % zu, wie dieser frischfröhlich die maximalen
Elektroschocks dem wehrlosen Opfer appliziert.
Ein drastischeres und
anschaulicheres Exempel für die Abschiebung von Verantwortung
lässt sich schwerlich finden, Es enthüllt nicht nur am
deutlichsten die "Banalität des Bösen" (Hannah Arendt),
sondern auch das Diabolische der Bürokratie, des
bürokratischen Gehorsams unter der Devise "Fleiss und
Pflichterfüllung".
Es sei ein typisches
Kennzeichen der Bürokratie, meint Milgram, "dass die meisten,
die zu ihrer Organisation gehören, keineswegs direkt
irgendwelche destruktiven Aktionen durchführen. Sie
wälzen Akten oder verladen Munition, oder erledigen irgendeine
andere Tätigkeit, die - obgleich sie zu der endgültigen
destruktiven Wirkung beiträgt - in den Augen und im Gewissen
des Funktionärs weit davon entfernt ist."
Man mag an Milgrams
Experiment und seinen Beschreibungen manches bekritteln, doch wie
Walter Toman in seiner zweibändigen "Einführung in die
Allgemeine Psychologie" (1973) apodiktisch zu befinden "Es beweist
nichts von allgemeinem Wert", geht zu weit.
Die Lektüre des
"Milgram-Experiments" dürfte nebst Erschütterung
zumindest zur Folge haben, dass man sich die These von Arthur
Koestlers tiefgreifenden, an den Kern des Humanen greifenden
Gedanken zu Herzen nimmt, "dass die egoistischen Triebe des
Menschen eine bei weitem geringere Gefahr in der Geschichte
darstellen als seine Neigung zur Integration".
(erschienen unter dem
Titel "Verhalten gegenüber Autorität. Zu Stanley Milgrams
Experiment über Gehorsamsbereitschaft", Neue Zürcher
Zeitung, 11.12.1974)