Wieviel Esoterik steckt in der Freimaurerei?
Rezension von: Jan A. M. Snoek: Einführung in die Westliche Esoterik, für Freimaurer. Freimaurerloge Modestia cum Libertate im Orient von Zürich 2011.
Sei 200 Jahren arbeitet die Zürcher Freimaurerloge „Modestia cum Libertate“ ohne Unterbruch. Sie war 1771 gegründet worden, versank jedoch schon 15 Jahre später für ein Vierteljahrhundert in den Schlaf. Aus Anlass dieses 200-Jahre-Jubiläums beauftragte sie Jan Snoek mit der Abfassung eines Buches über Westliche Esoterik. Dieser bekannte Ritualforscher wurde 1946 in Amsterdam geboren, ist seit 1971 Freimaurer und seit 2000 wissenschaftlicher Mitarbeiter und apl. Prof. am Institut für Religionswissenschaft der Universität Heidelberg. Zuvor hat er an der Universität Leiden Chemie und Biologie studiert, hernach in Religionswissenschaft mit einer Arbeit über „Initiationen“ promoviert (1987). Bereits 1999 hielt er in Leiden eine Vorlesung „Einführung in die Westliche Esoterik und die Freimaurerei“. Nun hat er dieses Thema zu einem 270seitigen Buch ausgearbeitet – er nennt es bescheiden „Büchlein“ (16).
Auf den ersten 170 Seiten schildert er in knappen, aber informativen Kapiteln die acht wichtigsten esoterischen Strömungen des Abendlandes. In drei weiteren Kapiteln werden die Traditionen der Steinmetzen, der Okkultismus des 19. Jahrhunderts und der Zusammenhang Freimaurerei-Esoterik behandelt. Der streng wissenschaftliche Zugang zu diesen Themen zeigt sich etwa darin, dass Snoek nicht von Gnosis, Kabbala oder Hermetik spricht, sondern von Gnostizismus, Kabbalismus und Hermetismus.
Es ist eine Freude, dieses Buch zu lesen. Snoek befleissigt sich einer klaren und einfachen Sprache. Er stellt komplizierte Sachverhalte anschaulich dar. Zahlreiche Abbildungen, auch farbige, begleiten den Text. Jedes Kapitel wird zudem mit aktuellen Literaturangaben abgeschlossen. Den Band beschliesst ein 13seitiges kleingedrucktes Register.
Die Kennzeichen der Westlichen Esoterik
In der „Einführung“ beschreibt Snoek vorerst das Wesentliche der Freimaurerei und erläutert dann, was unter „Westlicher Esoterik“ zu verstehen ist. Angelehnt an Antoine Faivre (1992) hat diese Esoterik folgende Kennzeichen: 1. Die sichtbare Welt gilt as Symbol für die unsichtbaren Welten (z. B. „Wie oben, so unten.“). 2. Die ganze Biosphäre wird als ein lebendiger Organismus gefasst (Natur, „Gaia“). 3. Mit der Imagination können wir Vermittlungen aller Art (etwa Symbole und Bilder) aufspüren. 4. Die Initiation ist eine Transmutation, eine „zweite Geburt“, in der eine erleuchtende Erkenntnis („Gnosis“) erworben wird.
Bei vielen esoterischen Strömungen finden sich zudem zwei weitere Eigenheiten: 5. Sie sind überzeugt, dass alle Religionen und esoterischen Traditionen blosse Variationen einer einzigen historischen Ur-Form sind. 6. Die Übermittlung einer esoterischen Lehre erfolgt auf einem vorgezeichneten Weg und unter Einhaltung bestimmter vorgeschriebener Stadien vom Meister an den Schüler.
Snoeks Texte ersparen dem Leser das Konsultieren von Lexika. Sie umfassen (ohne die Seiten mit Abbildungen):
„ … bis dir hervorstrahlt der göttliche Glanz der Tugend“
Die Länge der Texte bemisst sich nach dem Einfluss auf die Freimaurerei – einzig die Rosenkreuzer werden zu lang und an mehreren Stellen gewürdigt.
Die Astrologie findet sich höchstens im sternenbedeckten Himmelsgewölbe über manchen Logenräumen („heute oft zu Unrecht freimaurerische ‚Tempel’ genannt“, 33). Der Flammende Stern ist in den frühesten Abbildungen ein Komet (221).
Platon war der erste, der Gott als Baumeister der Welt genannt hat. Plotin (um 250 n. Chr.) entwickelte Platons Lehre weiter zu einem Stufenbau der Welt. Zuoberst ist „das Eine“. Es schafft unter sich drei Welten: den Nous (den Göttlichen Geist), die Weltseele und die Materie. Die individuellen Seelen stehen als Mittler zwischen der Weltseele und der Materie. Sie tragen eine Sehnsucht nach der Wiedervereinigung mit dem „Einen“ in sich. Dieselbe kann auf drei Wegen erreicht werden: „Dem Weg zur Wahrheit wird durch den menschlichen Geist nachgestrebt, demjenigen zur Güte durch seinen Willen und demjenigen zur Schönheit durch sein Herz“ (38). Auf dem Weg zur Schönheit arbeitet der Mensch wie ein Bildhauer: „… so meissle auch du fort was unnütz und richte was krumm ist, das Dunkle säubere und mach es hell und lass nicht ab an deinem Bild zu handwerken bis dir hervorstrahlt der göttliche Glanz der Tugend“.
Mit „Gnosis“ werden bekanntlich eine Unzahl unterschiedlichster Strömungen bezeichnet, jüdische und christliche, neuplatonische und muslimische. Manche sind „monistisch“, weltbejahend, aber die meisten „dualistisch“, wobei letztere eine „böse“ materialistische Welt einer höheren guten Realität gegenüber stellen. Das Wort „Gnosis“ verweist auf ein höheres Wissen, ein „Wissen der göttlichen Mysterien“, das einer Elite vorbehalten bleibt. Snoek druckt einen der schönsten und typischsten gnostischen Texte, das „Perlenlied“ im vollen Wortlaut ab (6 Seiten). Von der „Kirche“ wurden die Gnostiker stets verfolgt, so die Mandäer, die Paulicianer und Bogomilen, im 12. und 13. Jahrhundert die Katharer und Albigenser.
Die Alchemie entstand etwa zur selben Zeit wie der Gnostizismus, also kurz nach der Zeitenwende. Sie speist sich aus ägyptischer Technologie, griechischer Philosophie und Mystik aus dem vorderen Orient. Neben dem praktisch-chemischen Ziel, nämlich der Veredelung von Metallen, ging es stets auch um die Veredelung des Menschen, den Aufstieg der menschlichen Seele zu Gott. „Oft wird er kombiniert mit dem Prinzip von Tod und Wiedergeburt aus den orientalischen Mysterienkulten, und mit dem Konzept der Erlösung durch Gnosis“ (72).
Kabbala und Hermetismus suchen nach dem Schöpfungswort
Die Kabbala ist ursprünglich eine jüdische Geheimlehre, welche aus Spekulationen und mystischen Kontemplationen zu folgenden Themen besteht:
Im wohl anspruchsvollsten Kapitel seines Buches schildert Snoek die komplizierte Entfaltung des Kabbalismus seit der Merkabah-Mystik des 1. Jahrhunderts (welche ähnlich ist dem Gnostizismus) über das „Buch der Schöpfung“ (Sefer Yetzirah) und das „Buch der Helligkeit“ (Sefer ha-Bahir) zum „Buch des Glanzes“ (Sefer ha-Zohar), welche alle in unterschiedlichster Weise von den Zehn Sefirot handeln. Um 1570 interpretierte Isaak Luria die theoretische und praktische Kabbala neu. Populär wurde dies im polnischen Chassidismus des 18. Jahrhunderts. Eine Umdeutung der Kabbala ins Christliche erfolgte auf dem Höhepunkt der Renaissance durch Pico della Mirandola (1486), Johannes Reuchlin (1517) und Agrippa (1533).
Ebenfalls kurz nach der Zeitwende dürften die ersten „hermetischen“ Schriften entstanden sein: „Asclepius“ und „Poimandres“. Sie können als eine „optimistische Gnosis“ (58, 105) verstanden werden: Der Mensch kann Gott kennen durch Kontemplation der Schöpfung. „Das Universum ist wie ein Text, worin das Göttliche sich offenbart und den man zu lesen und zu entziffern lernen soll.“ Und eine Vereinigung der Seele mit dem Göttlichen ist immer möglich. Snoek bringt die ersten 15 Absätze des „Poimandres“ im Wortlaut (4 Seiten). Darin finden sich unter anderem folgende Sätze:
Auch aus dem „Asclepius“ zitiert Snoek 3 Seiten, und zwar über das Zeitalter der Gottlosigkeit, das eine Wiedergeburt der alten Werte erfordert.
Das sogenannte „Corpus Hermeticum“, eine Sammlung von insgesamt 18 Texten, wurde 1462 in der neuplatonischen Akademie von Florenz übersetzt. Pico della Mirandola kombinierte es bald darauf mit der Kabbala: „Das Suchen nach dem Schöpfungswort (hermetisch) ist das Suchen des Namens Gottes (kabbalistisch)“ (114).
Astrea-Kult und Rosenkreuzertum
Etwas aus dem Rahmen der Esoterik fällt der „Astrea-Kult“. Die Idee dazu stammt aus der Renaissance. Man las in Ovids „Metamorphosen“ von der Abfolge der Zeitalter bis zum Eisernen, dem nun ein neues Goldenes Zeitalter unter der „Göttin der Gerechtigkeit“, eben Astrea, folgen sollte. Ähnliches prophezeite Vergil in der vierten „Ekloge“. Königin Elisabeth I. von England entwarf ihr Leben als Realisierung der Rückkehr von Astrea (um 1580), König Heinrich IV. von Frankreich und Navarra sowie Friedrich V. von der Pfalz folgten nach ihrem Tod 1603 als „Astrea-Fürsten“.
Die Verbindung zu den Rosenkreuzern schaffte vermutlich der Magier und Gelehrte John Dee, der ganz Europa bereiste, um die Rückkehr der Astrea zu verkünden (128, 143, 234). Ferner könnte eine der drei Rosenkreuzerschriften, nämlich die „Chymische Hochzeit“ von Johann Valentin Andreae (1616), „eine allegorische Interpretation der Feierlichkeiten nach Anlass der Eheschliessung von Friedrich V. von der Pfalz und Prinzessin Elisabeth Stuart 1613 im Heidelberger Schloss“ (146) sein.
Einige wichtige Rosenkreuzerorden waren die „Gold- und Rosenkreuzer“ (1747-1787), die „Societas Rosicruciana in Anglia“ (gegründet 1867) und der „Golden Dawn“ (1888). Ferner gab es zahlreiche Rosenkreuzergrade in freimaurerischen Hochgradsystemen. Immer noch aktiv sind in Amerika die „Fraternitas Rosae Crucis“ (ca. 1902 gegründet) und der „Antiquus Mysticus Ordo Rosae Crucis“ (1915). Weiter kann man zum Rosenkreuzertum die Anthroposophie (1913) von Rudolf Steiner, die „Rosicrucian Fellowship“ von Max Heindel (1909) und deren niederländische Abspaltung, das „Lectorium Rosicrucianum“ (1935) zählen.
Streiflichter auf die Steinmetzen
Vorsichtigerweise spricht Snoek nur von den „Traditionen der Steinmetzen“ (12 Seiten), nicht von den esoterischen. Recht ausführlich geht er auf Abt Suger, den Begründer der Gotik (1137) ein. Für diesen ist das Bauen einer Kirche „keine nur materielle, praktische Sache, sondern Erfüllung seines Auftrages, die Menschen zu Gott zu führen. Das Gebäude selbst ist materialisiertes Licht, Stoff gewordener Gott, und muss darum wohl schön sein. Es ist die Aufgabe der Steinmetzen, Bildhauer und weiterer Arbeiter am Bau, für diese Schönheit zu sorgen“ (182; vgl. 222-223, 250-251). Hernach streift Snoek die „Old Charges“ und die Schaw-Statuten von 1598/99. In Anlehnung an den Freimauer-Forscher Andrew Prescott datiert er das Regius- wie das Cooke-Manuskript später als bisher angenommen, nämlich auf ungefähr 1425-1450.
Okkultismus = „Trivialisierung der Esoterik“
Das folgende Kapitel behandelt den Okkultismus des 19. Jahrhunderts (13 Seiten) als „Trivialisierung der Esoterik“ (215). Wegbereiter waren Swedenborg und Mesmer. Ausserordentlich knapp schildert Snoek Spiritismus, Kartenlegen und Magie. Die Beschreibung „okkultistischer Organisationen des ‚Fin-de-Siècle’“ erschöpft sich in einer Aufzählung von Namen und, erneut, von Rosenkreuzer-Orden (208-215; vgl. auch 247-249).
Wieviel Esoterik steckt in der Freimaurerei?
Mehr als doppelt so lang wie die bisherigen Kapitel ist das letzte zusammenfassende über „Freimaurerei und Westliche Esoterik“ (32 Textseiten). Für jede besprochene esoterische Strömung wird der Einfluss auf die Freimaurerei skizziert.
Vom Neuplatonismus stammen „das Konzept des Bildhauers als Prototyp des Suchenden auf dem Weg der Vervollkommnung“ (222; vgl. 251) sowie der Versuch, absolute Schönheit zu erreichen. Da der dualistische Gnostizismus weltverneinend ist und den alttestamentarischen Gott negativ sieht, passt er nicht zur Freimaurerei. Am ehesten gibt es noch Berührungspunkte mit der Lichtsymbolik, beispielsweise des „Perlenliedes“.
„Dem alchemistischen Prinzip der Transformation von Unedlem in Edles entspricht das freimaurerische Konzept der Selbstveredelung“ (224). Auch die Bearbeitung des rauhen zum kubischen Stein gehört hierher (vgl. auch 253). In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstanden Grade und Riten, die explizit alchemistisch gestaltet waren. Kabbalistisch ist das Buchstabieren oder Syllabieren der heiligen Wörter des ersten und zweiten Grades, im besonderen auch der Schwedische Ritus, gemäss der Überarbeitung von Herzog Karl von Södermannland um 1800.
Aus dem Hermetismus könnten die Geschichte von Noah und der Entdeckung der Säulen des Wissens nach der Sintflut herrühren, ferner das Konzept von Gott und Mensch als Werkmeister sowie das Bild von Gott als Kreis, dessen Mittelpunkt überall und dessen Umfang nirgendwo ist. Erstaunlicherweise finden sich in zahlreichen freimaurerischen Liedern, Gedichten und Ritualtexten seit 1738 Erwähnungen der Astrea. „Die Freimaurerei hat dafür gesorgt, dass die Welt wieder so ist wie im Goldenen Zeitalter“ (240).
Deutlich formuliert Snoek, dass viele Publikationen über den Zusammenhang der Freimaurerei mit den Rosenkreuzern das Papier nicht wert sind, auf dem sie gedruckt wurden. „Ein Einfluss der Gedanken der Rosenkreuzer auf die der ersten drei Grade der Freimaurerei ist kaum nachweisbar“ (244). Aber manche Hochgrade sind rosenkreuzerisch inspiriert (vgl. auch 157-165, 252).
Seit 1780: Die Freimaurerei wird bürgerlich und moralisierend
Auch Freimaurern selber ist folgender Sachverhalt selten bewusst: „Vor etwa 1800 ist die aristokratische Freimaurerei – so zeigen es ihre Rituale – primär darauf ausgerichtet, in den Kandidaten eine mystische Erfahrung hervorzurufen. Zwischen etwa 1780 und 1820 vollzieht sich in fast allen westlichen Staaten eine gravierende Änderung der Rituale, wonach die nun bürgerliche Freimaurerei, vor allem in den ersten drei Graden, eher auf eine Einübungsethik orientiert ist“ (13).
Statt dass man eine (mindestens symbolische) Vereinigung mit Gott erreichen wollte, ging es nur noch darum, wie die Amerikaner sagen, „gute Menschen noch besser zu machen“. Statt der „Unio Mystica“ wurde der Tod – ein typisches Thema der Romantik – in den Mittelpunkt gerückt (vgl. auch 253). „Eine derartige Auffassung der Freimaurerei liess nur wenig Platz für okkultistische Aspekte“ (247).
Okkultistische Formen der Freimaurerei werden oft „fringe masonry“ genannt; sie bewegen sich am Rande der „Mainstream“-Freimaurerei. Es handelte sich dabei fast immer um kleine und kurzlebige Grüppchen. Die einzig erfolgreiche Form wurde der „Droit Humain“ resp. die „Co-Masonry“ der Theosophin Annie Besant.
(Diese Rezension ist erschienen unter dem Titel: Fast ein Lexikon der Westlichen Esoterik in der „Festschrift zum 200-jährigen Jubiläum des Wiedererwachsne der Loge Modestia cum Libertate i. O. von Zürich, 1811-2011“, Mai 2012, 102-110; Copyright 2012 Modestia cum Libertate)
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