Home Freimaurerei: Aufschwung und Konsolidierung der Hochgrade

                     1740-1999

 

siehe:             Die frühen Hochgradsystem der Freimaurerei

 

 

Teil I: 1740-1780: Wilde Entfaltung der Symbolik und Rituale

1740-1780: Weit über 100 Systeme entstehen

Gründe für die Bildung von Hochgraden

Politische und religiöse Gründe für den Einbruch mystisch-geheimbündlerischer Strömungen

Unterschiedliche Beurteilung der Hochgrade

 

Teil II: Zur Herkunft der neuen Symbole und Rituale

Woher kommen die neuen Symbole und Rituale?

Weitere Behauptungen zur Herkunft von Symbolen

Weiter Bezeichnungen von Ritualen

Losungsworte und Moral aus der Bibel

Die Ritterlegenden greifen auf biblische Geschichten zurück

Aus der Gnosis?

Aus der Mystik?

Und immer wieder: Aus den Mysterien oder der Alchemie?

 

Teil III: 1780-1820: Konsolidierung zu über 20 Systemen

Die heute noch wichtigsten Hochgradsysteme

 

Literatur

 

 

 

Teil I: 1740-1780: Wilde Entfaltung der Symbolik und Rituale

 

1740-1780: Weit über 100 Systeme entstehen

 

Ineins mit der fast explosionsartigen Ausbreitung der modernen Freimaurerei über die ganze Welt erfolgte eine ebenso rasante Ausweitung der Symbole und Rituale.

Paul Naudon (1982, 74) spricht von einer „ungezügelten Ausbreitung“. Michel Dierickx (1968, 129-130) von „wild wuchernd“, Alec Mellor (1985, 257) vom „unentwirrbaren Dickicht des Ecossismus“. Dem gibt Dieter A. Binder (1998, 95) mit der Formel vom „zunehmenden Wuchern obskurer Hochgradsysteme“ noch einen drauf.

 

Es entstanden weit über 100 „Lehrarten“, „Systeme“ oder Riten. Der "Dictionnaire de la Franc-Maçonnerie" von Daniel Ligou (1998, 1037-1059) beschreibt oder erwähnt auf 22 Seiten etwa 100 davon. Auch „Coil’s Masonic Encyclopedia“ spricht von über 100 Ritualen und beschreibt die meisten davon auf etwa 40 Seiten (1995, 525-563).

 

Nun erst kamen die 200 bis 300 Jahre zurückliegenden Einflüsse der gelehrten und geheimen Gesellschaften von Renaissance und Barock zum Tragen.

Es gibt kaum eine kulturelle Strömung de Menschheitsgeschichte, die nicht geplündert wurde.

 

Ludwig Hammermayer (1979, 11) stellt ebenfalls fest, dass nach 1740 eine "ritterlich-aristokratische Überhöhung" der kontinentalen Maurerei begann, "eine fast unbegrenzte Ausuferung in Hochgrade und Systeme; damit war aber auch die Voraussetzung geschaffen für eine verstärkte offene oder geheime Adaptation esoterischer Strömungen, seien sie nun hermetisch-alchimistischer, mystisch-spiritualistischer, theosophischer oder christlich-kabbalistischer Provenienz." Die sogenannte schottische Maurerei "zeigte sich in einer schier unerschöpflichen und nicht selten hybriden Variationsbreite" (13).

 

Gründe für die Bildung der Hochgrade

 

Offenbar erfasste bald nach der Gründung der modernen Freimaurerei einige Gelehrte und Abenteurer ein Ungenügen über die bis dahin gepflegten Legenden und „Geschichten“ und sie begannen, neue Beziehungen herzustellen (siehe: Behauptungen über die Wurzeln der Freimaurerei).

 

Eitelkeit und Ehrgeiz

 

Ein kurze Zusammenfassung gab Charles William Heckethorn in „Geheime Gesellschaften, Geheimbünde und Geheimlehren“ (1900, 397; engl. 1875):

Die drei ursprünglichen Grade, welche vom Bauhandwerk übernommen wurden - Lehrling, Gesell, Meister - genügten weder der Eitelkeit mancher aristokratischen ‚Brüder’, noch dem Ehrgeiz jener, die den Bund zu Parteizwecken ausnutzen wollten.

Ritter Andreas Ramsay, ein Anhänger der verbannten Stuarts, behauptete, daß die Freimaurer von den Kreuzrittern abstammen und regte deshalb die Einführung von Hochgraden mit politischem Hintergrund an.

Die Hochgrade, nach dem Lande der Stuarts ‚schottische’ genannt, nahmen an Zahl immer mehr zu und hüllten sich aus politischen Ursachen, aus persönlicher Eitelkeit und wegen ihrer abergläubischen Riten in immer tieferes Geheimnis; schließlich fielen sie Betrügern und Abenteurern à la Cagliostro und Casanova in die Hände.“

 

Mehr sein als scheinen

 

Eine weitere boshafte Erklärung lautet: Der "Bourgeois Gentilhomme" habe seine sozialen Minderwertigkeitsgefühle abreagieren müssen. Er wollte mehr scheinen als sein, und sei daher gradschöpferisch tätig geworden. Nur so sei die in Frankreich entstandene lange Reihe von maurerischen Graden eines Pseudoadels zu verstehen (Lennhoff/ Posner, 1932, Sp. 1320).

 

Äusserer Pomp

 

Schon 1913 hatte August Horneffer in seinem Buch „Der Bund der Freimaurer“ gemeint:

„In Frankreich wog bei dem Hochgradwesen die Freude an äusserem Pomp und an Abwechslung vor. Man wollte immer wieder etwas Neues haben, erleben, schauen. Da diesem Drang durch geistige Kost nicht Genüge getan wurde, hielt man sich an die schönen Kostüme und mannigfaltigen Zeremonien der verschiedenen Grade.“

 

Bei der Beschreibung der sog. „Schottischen Maurerei“ stützen sich Lennhoff /Posner (1932, Sp. 1403) auf ein Buch des französischen Forschers Albert Lantoine von 1930:

„Für Lantoine steht es fest, das diese Grade, die mit ihren Ritterzeremonien, ihren farbigen Legenden und behaupteten (ebenso glorreichen wie uralten) Traditionen, mit ihrem katholisierenden Pomp im Ritual, in Symbolik und Titeln die protestantisch nüchtern erscheinende reine englische Lehrart bald gewaltig überstrahlten, von den Freimaurern der schottischen — übrigens hauptsächlich aus Iren bestehenden — Regimenter importiert wurden.“

 

Aristokratisierung, resp. Auslese

 

Alec Mellor (1985, 255) spricht wie ein Psychologe von „einer freimaurerischen Psychose, die von hellsichtigen Brüdern als ‚Bändersucht’ bezeichnet wird“, anderswo von Eitelkeit (257), vom „Bestreben, die Freimaurerei zu aristokratisieren“ (256) und von einem „starken Bedürfnis nach Auslese“ (274). Er wird noch deutlicher: „Die berühmte maurerische Gleichheit wurde von den Brüdern von Stand offenbar schwer ertragen“ (260).

„Darüber hinaus gibt es noch jenes niemals gestillte Verlangen nach dem Erkennen des maurerischen Geheimnisses, welches wir die ‚Suche’ genannt haben. Man verfolgt dieses immer entfliehende Geheimnis von Grad zu Grad. Warum also jemals Halt machen?“ (259).

 

Paul Naudon (1982, 75) formuliert ähnlich, aber etwas vorsichtiger, die ursprünglichen Rituale seien äusserst karg und einfach gewesen; erst eine Generation später sei das Bedürfnis nach Vergeistigung, d. h. Mystizismus und Illuminierung aufgekommen. Zudem habe die Bildung von Hochgraden eine Selektion ermöglicht, denn „besonders in den Pariser Logen fanden sich Scharen von Brüdern, denen ein frivoles Treiben auf üppigen Banketten näher lag als die initiatorischen Ziele des Ordens“ (74).

 

Auch Lennhoff/ Posner (1968, Sp. 701-702) sprechen von „philosophischer Vertiefung“ und „einer Art Auslese aus den Allzuvielen des Logenlebens“, resp. „Reform durch Auslese“ (Sp. 1404; bereits 1402).

 

Der Adel reformiert die Freimaurerei

 

Etwas anders sehen es Lennhoff/ Posner (1932, Sp. 1320; vgl. 1404). Sie weisen darauf hin, dass damals in Frankreich der hohe Adel die Führung der Logen in den Händen hatte. Er verfolgte drei Ziele:

  • das unvollendet erscheinende englische Dreigradsystem abzuschliessen
  • die Idee der Freimaurer klarer darzustellen
  • innere Verfallserscheinungen zu reformieren.

Daher führte der Adel seine eigenen Ritterorden als höhere Grade in die Freimaurerei ein und nahm anfangs auch nur Adelige in diese Hochgrade auf.

 

Abenteurer und Scharlatane

 

Gerade umgekehrt sieht es der freimaurerische Historiker Friedrich Runkel, wobei er auf die Tatsache Bezug nimmt, dass viele Systeme von Aussenseitern und Abenteurern, Strauchrittern, Schwärmern und Scharlatanen oder dubiosen Geschäftemachern gegründet wurden: „Alle diese Orden … spekulieren auf die Sehnsucht der Menschen, über das Irdische hinauszustreben. Sie drängten sich an die Freimaurerei ihrer Zeit heran, weil sie in deren Anhängern die tauglichsten Objekte für ihre finanziellen Aspirationen vermuteten“ (zit. bei Deiters, 1963, 32 – beim Autor handelt es sich um Ferdinand Runkel, vgl. z. B. 29 und 33).

 

Alec Mellor (1985, 89) wirft noch den heutigen Anhängern der Hochgrade, besonders in den USA, finanzielle Motive vor. Der Handel mit den Hochgraden sei durchaus gewinnbringend. Die Begeisterung für Hochgrade wie die Shriners und „Knight Templars“ sieht er als Ausfluss eines echt amerikanischen Wesenszuges, der „fröhlichen Kindlichkeit“ (90).

 

Ausschöpfung eines alten Schatzes

 

Eine weitere Behauptung lautet: Die Hochgrade seien nicht später erfunden worden, sondern stammten aus einem "umfangreichen Schatz aus Legende, Tradition und Symbolik", dem die englische Grossloge im Jahre 1717 nur einen gewissen Teil entnommen habe (Beigent/ Leigh, 1991, 287-289, nach J. E. S. Tuckett 1919; auch Ligou, 1987, 1035f; streng dagegen Knoop/ Jones, 1968, 291f, jedoch 304).

 

Hans Biedermann (1988, 54-55) formuliert dasselbe umgekehrt, wenn er von dem „offenbar allgemein als faszinierend empfundenen Zug“ spricht, „dass in den höheren Erkenntnisstufen Wissen aus alten Epochen blossgelegt wird oder dass es wenigstens Wege gibt, sich diesem Wissen anzunähern“. Man könne sich dieses allerdings auch „durch das Studium einschlägiger Werke ohne Mitgliedschaft aneignen“.

 

Rokoko und Vorromantik

 

Selten werden allgemeine Gründe wie der Zeitgeist namhaft gemacht. Dierickx (1968, 129) zitiert einen holländischen Forscher der meint, es sei kein Zufall, dass die neuen Lehrarten „zumeist im Frankreich des 18. Jahrhunderts entstanden sind. In diesem Frankreich mit der Pracht und dem Pomp am Hof der Bourbonen, belebt vom eleganten Lebensstil der damaligen Elite, dieses Frankreich des Rokoko mit seinen schwungvollen und zierlichen Formen, ganz besonders in einer Zeit, in der das Leben mit spielerischem Geist durchsetzt ist, eine Zeit aber auch, als der Mensch noch stark das Vermögen assoziativen Denkens besass, das für die Ausübung der Königlichen Kunst so notwendig ist.“

 

Alec Mellor (1985, 259) spricht unter Bezug auf Auguste Viatte von einem ähnlichen „Umwelteinfluss“: der Vorromantik. „Es war eine Reaktion gegen einen vertrockneten Klassizismus und gleichzeitig eine Explosion emotionaler Kräfte, die im vorangegangenen [d. h. 17.] Jahrhundert ein unterirdisches Leben geführt hatten. Während der Rationalismus noch seine Triumphe feierte, war die Einweihung in die Hochgrade bereits die geheime Nahrung der Empfindsamkeit und gleichzeitig die unausweichliche Rache des aufgestauten religiösen Sinnes.“

 

Die letzten Dinge entschleiern

 

Lennhoff /Posner (1932, Sp. 1404) fassen zusammen:

„Mag bei der Einführung der Schottischen Maurerei wer immer Pate gestanden haben, diese nahm in verschiedenstem Gewand, begünstigt durch alle möglichen Zeitströmungen, ungeahnten Aufschwung.

Namentlich der latente Okkultismus, der neben dem Aufklärungsstreben einhergehende Sinn des 18. Jahrhunderts für hermetische Lehren, der Glaube, letzte Dinge entschleiert zu erhalten, unterstützte die rasche Ausbreitung der neuen Grade, das Ersinnen von die Phantasie immer reicher beflügelnden alchimistischen und kabbalistischen Ausdeutungen der Symbole.

Am Anfang stand, wie oben gesagt, der Wunsch nach Reform durch Auslese; daraus wurde dann etwas ganz anderes, bedingt allein schon durch bald sich breit machendes aristokratisches Herrschaftsstreben auch innerhalb der Maurerei und menschlich verzeihliche Eitelkeit.

Es wimmelte in Frankreich bald von - gelegentlich tatsächlich von Jakobiten gestifteten — Systemen, Riten, Orden, Kapiteln und Mutterlogen, die zumeist behaupteten, den letzten Aufschluß über die Freimaurerei erteilen zu können.“

 

 

Politische und religiöse Gründe für den Einbruch mystisch-geheimbündlerischer Strömungen

 

Aufklärung und konservative Gegenreaktion

 

Laut dem Forscher Michael W. Fischer war die Freimaurerei seit 1740 „nicht nur eine Propagandaorganisation der aufklärerischen Philosophie, sie war auch gleichzeitig eine Einbruchstelle mystisch-geheimbündlerischer Strömungen“ (Fischer, 1982, 132, 242; vgl. 105). „In dieser Ambivalenz befindet sich die Maurerei das ganze 18. Jahrhundert hindurch“ (242).

 

Die radikale Aufklärung und ihre Gegenbewegung, die konservative Gegenreaktion, entsprangen beide dem Unbehagen am absolutistischen System (214). „Die Wurzeln der mystischen Gegenströmungen lagen in Frankreich im Jansenismus, in Deutschland im Pietismus“ (242). „Den Kern der Geheimwissenschaft der Gold- und Rosenkreuzer bilden kabbalistische Gedankengänge, die seit der Renaissance in den Mysterienbünden Europas heimisch geworden sind. Sie wollten aber wegen ihrer betont christlichen Frömmigkeit gerade den Zusammenhag mit der Kabbalistik verschleiern“ (245). Daher greifen sie auf die Theosophie Jakob Böhmes zurück (246).

 

Damit brach auch die Einheit der Freimaurerei auseinander: „An ihre Stelle traten zwei völlig entgegengesetzt orientierte Gesellschaften, die ‚rechten’ Rosenkreuzer und die ‚linken’ Illuminaten. Sie knüpften an der alten Gegensätzlichkeit von irrational-schwärmerischer und rational-aufklärerischer Haltung innerhalb der Freimaurerei an“ (Fischer, 1982, 214).

 

Keine Kontinuität auf dem Kontinent

 

Otto Winkelmüller hat in seinem klugen Buch über „die deutschen Bauhütten“ (1964, 23) ebenfalls eine Erklärung. Im Unterschied zu den Inseln gab es auf dem Kontinent keinerlei Kontinuität zwischen den Bauhütten und der modernen Freimaurerei. „Darin liegt auch mit der Grund, dass in Deutschland in der 2. Hälfte des XVIII. Jahrhunderts so heterogene Strömungen wie die Rosenkreuzerei, das Clermont’sche System, die strikte Observanz, u. a. Fuss fassen konnten.

Wenn die Tradition mit den deutschen Bauhütten wirklich ununterbrochen vorhanden gewesen oder bekannt gewesen wäre, wie in England, wären diese Einflüsse und Strömungen nie so wirksam geworden und hätten vor allem niemals zu so grossem Einfluss kommen können.“

 

Englische Vormundschaft abschütteln

 

Alec Mellor (1985, 34-35), zeigt sich erstaunt, dass kaum jemand auf den Gedanken gekommen sei, das Aufblühen der Hochgrade in den Rahmen der allgemeinen europäischen Politik einzuordnen: Im Verlauf des österreichischen Erbfolgekrieges suchten die kontinentalen Freimaurer „die englische Vorherrschaft abzuschütteln und damit nicht nur zu einer ‚andersartigen’, sondern auch zu einer ‚höhergradigen’ Freimaurerei zu kommen“.

 

Unterschiedliche Beurteilung der Hochgrade

 

Über Sinn und Unsinn der Hochgrade herrscht keine Einigkeit. Eine kleine Zusammenstellung entgegengesetzter Auffassungen bietet Heinz-Günter Deiters (1963, 177-188).

 

Sogar Eugen Lennhoff und Oskar Posner (1932, Vorwort, 6; Sp. 701 Fussnote) sind unterschiedlicher Ansicht.

Sie (Sp. 560) schreiben etwa: „Das 18. Jahrhundert mit seinen zahlreichen Systembildungen und Verirrungen hat dann eine Unzahl von Ritualen gezeitigt, die zum Teil wieder ganz verschwunden sind, teils aber ihre Reste bis auf den heutigen Tag in dem ursprünglich klaren einheitlichen Ritualgang zurückgelassen haben.“ Anderswo schreiben sie unter anderem: „In der heutigen Zeit sind die Hochgrade ein Anachronismus“ (Sp. 702), es werde „dem Spiele persönlicher Eitelkeiten, dem Geltungsbedürfnis und dem Hängen an Äusserlichkeiten Tür und Tor geöffnet“.

 

Der grosse Freimaurerkenner Robert Freke Gould verwarf die Hochgrade, weil sie dem demokratischen Grundzug der Freimaurerei widersprechen.

 

Schon in den von Ignaz Aurelius Fessler um 1800 massgeblich bestimmten Satzungen der preussischen Grossloge „Royal York“ heisst es:

„Der Keim aller maurerischen Kenntnisse ist in den ersten drei Graden eingeschlossen. Folglich muss jede Mannigfaltigkeit von Graden, welche Geldgier, Marktschreierei, Torheit, Aberglaube, Schwärmerei, Eitelkeit und Herrschbegierde erzeugt haben, auf immer aus der maurerischen Verfassung verbannt werden“ (Deiters, 1963, 45). Allerdings blieb die Grossloge bei etwa 9 „Erkenntnisstufen“.

 

Aber Lennhoff/ Posner zitieren auch den Schweizer Edouard Quartier-La Tente: Die Symbolischen Grade seien die Elementarschule, die Hochgrade die Hochschule der Freimaurerei (Sp. 702).

 

 

 

Teil II: Zur Herkunft der neuen Symbole und Rituale

 

Woher kommen die neuen Symbole und Rituale?

 

Seit 1740 kamen teils für die Johannismaurerei, vor allem aber für die neu entstehenden Hochgrade und Hochgradsysteme dazu:

 

a) erneute Anleihen bei

  • den alten Mysterien. Generell dazu Lennhoff/ Posner (Sp. 1079-1088, 1694-1695; Dyer, 1991, 32-38, 45-46)
  • den biblischen Geschichten (z. B. Dyer, 1991, 47-57)
  • dem Bauwesen, z. B. 24zölliger Massstab, Hebel, Knotenschnur
  • dem allgemeinen Kulturgut, z. B. Degen (dazu kritisch Lennhoff/ Posner, 1932, Sp. 326), Schwert (Sp. 1444) und Dolch, Sanduhr und Sarg, Globen und Spiegel
  • den Rosenkreuzern (Lennhoff/ Posner, Sp. 1331-1339); vor allem auch in den Hochgraden des schwedischen Systems und bei der National-Mutterloge „Zu den drei Weltkugeln“ (Sp. 1337-1338, 1720-1721)

 

b) zusätzliche Anleihen (vor allem für die „Schottische Maurerei“) bei

 

  • der Alchemie, z. B. der Uroboros, sowie zahlreiche magische Formeln oder Sinnsprüche (Lennhoff/ Posner, Sp. 39-41, 690, 744, 1401; Endres, 75; Mellor, 343-349; Ligou, 23-25; Dosch, 19, 131), manchmal auch mit hermetischer Kunst gleichgesetzt
  • den kabbalistischen Schriften (Lennhoff/ Posner, Sp. 415-416, 626679, 808-809, 1147, 1306-1307; auch Mellor, 1985, 323, 379; Ligou, 1998, 674; Dyer, 40-41, 54-57; Ligou, 673-674; Dosch, 151; dazu Endres, 54, 88-89)

 

c) Anleihen aus jüngerer Zeit bei

 

  • Theosophie (um 1620 der Mystiker Jakob Böhme; Lennhoff/ Posner, Sp. 200, 1574-1575; 1147: besonders im Royal Arch; auch Ligou, 1998, 152; bei Fischer, 1982, 246: bei den Gold- und Rosenkreuzern)
  • Swedenborg (ca. 1750; Lennhoff/ Posner, Sp. 735, 1201, 1538-1540: ein „esoterisch-theosophisches System“; Naudon, 86-90, 130; Dyer, 44-45), vor allem auch in den Hochgraden des schwedischen Systems.

 

Weitere Behauptungen zur Herkunft von Symbolen

 

Oft wird laut Lennhoff/ Posner und Reinhold Dosch auch explizit von

hermetischer“ (690-691, 734-735; mehrfach auch Morbach; Dosch, 1999, 130-131),

magischer“ (100, 690, 979-981, 1088, 1416-1417; Deiters, 1963, 27-28; Dosch, 1999, 179-180) und

okkultistischer“ (352, 499, 1146-1151; 1404; Dosch, 1999, 212) Maurerei des 18. Jahrhunderts gesprochen.

 

Das Ritual des AASR (1801) sei gestopft voll mit Hermetismen, insbesondere Alchemie und Kabbala, meint Alec Mellor (1985, 334, 340-341). Des weiteren werden bei Lennhoff/ Posner Bezüge zu Astrologie (100) und Neuplatonismus (416, 1107) hergestellt. Mehrmals bedient sich auch Endres der Astrologie (1977, 64-65, 76-79, 85-86).

 

Will-Erich Peuckert (1997) spricht in krudem Durcheinander von „rosenkreutzerischen und pansophischen“ Bünden (580; ähnl. 594, 606), „Alchemie, Paracelsi philosophia adepta, und … Astrologie, Magie“ (590), von Pansophie, neuplatonischen Mystikern und Kabbalisten (592), und immer wieder von Alchemie und Astrologie, Paracelsus und Pansophie (607-609).

 

Reinhold Dosch (1999, 35) verkündet dagegen: „Freimaurerei und Astrologie besitzen keinen Zusammenhang.“

 

Laut Daniel Ligou (1998) gab es unter anderem einst einen Rite Astrologique, einen Rite Cabalistique, einen Rite Hermétique, einen Rite des Illuminés Théosophes und einen Rite des Panthéistes.

 

Helmut Reinalter (2002, 46) bringt den Rite hermétique in Zusammenhang mit der Alchemie und meint: „Der Begriff Hermetik wird häufig synonym für Alchemie verwendet … Im Zentrum der Theorien über Alchemie stehen die sieben hermetischen Prinzipien, die als Grundlage der hermetischen Philosophie angesehen werden.“

 

Der „ägyptischen“ Maurerei, wie sie beispielsweise in Mozarts „Zauberflöte“ zum Ausdruck kommt, stehen Lennhoff/ Posner kritisch gegenüber (29, 247-250, 1022-1024, 1044-1045, 1255, 1297-1298, 1544, 1742). Bereits Goethe hat die „ägyptische Maurerei“ von Cagliostro in seinem Lustspiel „Der Grosskophta“ (1791) verulkt. Ebenso kritisch ist die Erzählung "Der Stein der Weisen oder Sylvester und Rosine" (1786) von Christoph Martin Wieland.

 

Das „Hierosolymitianische [oder hierosolymatische) Hochkapitel“ ist eine kurzlebige Berliner Ausformung des Clermontschen Systems um 1760 (Lennhoff/ Posner, 1932, Sp. 281, 1328-1329).

 

Weitere Bezeichnungen von Ritualen

 

Die „Kryptische“ Maurerei (55-56, 882) bezeichnet im angelsächsischen Bereich nicht eine „unklare“ Maurerei, sondern einige Grade der Hochgrade, welche mit den Geschehnissen in einer „Krypta“ zu tun haben.

 

Hiramitisch“ nannte Ignaz Aurelius Fessler die, wie er meinte, ursprüngliche englische Freimaurerei um 1717 (Lennhoff/ Posner, 471, 700). In Coil’s Masonic Encyclomedia (1996, 525) ist ohne nähere angaben von einem „Hiramic Rite“ die Rede.

Die „adonhiramitische“ Freimaurerei ist dagegen ein französisches Hochgradsystem aus dem Jahre 1783 (Lennhoff/ Posner, 17, 652; auch bei Ligou, 13-14, 570-571, 1038).

 

Die „Antediluvian Masonry“ ist nur ein einziges Mal, im Jahre 1726, in einem spöttischen Zeitungsinseratentext fassbar.

Die Bezeichnung der Freimaurer als „Söhne Noahs“ oder Noachiden kommt nur 1735-38 als „unwesentliche Ausschmückung des ersten Andersonschen Textes“ vor (Lennhoff/ Posner, 1932, Sp. 1121-1124). Ein „Ordre des Noachites Français“ wurde von Anhängern Napoléon I. gebildet, existierte aber nur von 1816-1825 (Ligou, 1998, 891-892).

 

Die „palladische“ Freimaurerei schliesslich ist eine späte Erfindung. Sie stammt vom anti-freimaurerischen Phanstasten Leo Taxil (1891) und behauptet eine androgyne Maurerei (Lennhoff/ Posner, 1932, Sp. 1181, 1559).

 

Losungsworte und Moral aus der Bibel

 

Charles v. Bokor (1982, 13, 61) behauptet, „dass die meisten Losungsworte und Riten der Freimaurer aus dem Hebräischen stammen“ (vgl. auch Binder, 1998, 24ff). Dazu bieten Lennhoff/ Posner (1932, Sp. 51, 176-179, 679-680, 797-798, 1121-1124, 1543, 1567) Präzisierungen: Die meisten wurden erst nach 1740 eingeführt.

Immerhin finden sich in einem Dubliner Manuskript von 1711 und einem Katechismus von 1725 bereits mehrere verschiedene „Wörter“ (Knoop/ Jones, 1968, 274-275; vgl. 95-96).

 

Reinhold Dosch sieht Passworte und das „verlorene Meisterwort“ einerseits als „Relikte der Kabbala“ (1999, 151), anderseits als „alttestamentarische Worte“ (24). Bei Knoop/ Jones (1968, 92, 109, 225) ist das Maurerwort ein „rabbinisches Geheimnis“. Maurerwort und Meisterwort sind schwer auseinanderzuhalten (96).

 

Alec Mellor behauptet ungenau (1985, 387): „Die Freimaurerei wurde schon in den blauen Graden mit der Geschichte des jüdischen Volkes als Hintergrunddekoration geschmückt.“ Und: „Bei Betrachtung der englischen Hochgrade fällt auf, dass sie sich immer wieder an die Bibel klammern, um die Freimaurerei zu rechtfertigen.“

 

Dass die sittliche Grundlage der Freimaurerei unter anderem durch die Zehn Gebote und die „allumfassende Menschenliebe“ gebildet wird, betonen Lennhoff/ Posner (1932, Sp.1464; ähnl. 1302; vgl. 717). Walter Körting ergänzt, dass die Zehn Gebote „beinahe wörtlich ägyptischen Vorlagen entnommen sind“ (1971, 16).

 

Das Johannisfest ist das Fest der Liebe (Sp. 935), das Brudermahl ist die Agape (Sp. 26). Ausführlich äussert sich Béresniak (1988, 94-97) zum Liebesmahl, allerdings ohne die biblische Tradition zu erwähnen.

 

Am Anfang der modernen Freimaurerei lag die Bibel aufgeschlagen auf einem Schemel oder Tischchen, im „Dialogue between Simon and Philip“ (ca. 1725) als „pedestal“ bezeichnet, bei René Hérault (1737) als „“Tabouret“. Daraus wurde um 1740 ein „Altar“. Im „Catéchisme des Francs-Maçons“ (1744) und im Buch „L’Ordre des Francs-Maçons Trahi“ (1745) ist jedenfalls auf mehreren Zeichnungen des Tapis erstmals, mit Legende, ein „Altar“ vor dem Meister vom Stuhl zu finden.

Lennhoff/ Posner (1932, Sp. 47) kannten diese Zeichnungen anscheinend nicht, wenn sie meinen, der Altar sei „erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts“ eingeführt worden. Das übernimmt ohne Nachprüfung Dosch wörtlich (1999, 21, 279).

 

Unbekannt ist, seit wann der „Logenmeister“ auf dem „Stuhl Salomons“ sitzt (Béresniak, 1998, 36). Im Trinity College Dublin MS. von 1711 sitz er in einem Stuhl („in a Chair of bone“) mitten auf dem musivischen Pflaster – sonst sitzt er im Osten.

 

Oberste Leitlinie der 1770 gegründeten Grossen Landesloge der Freimaurer von Deutschland ist heute noch “die Nachfolge des ‚Obermeisters’ Jesus Christus“. Hermann Gloede führte im Jahre 1900 die Lehre dieses Freimaurerordens zurück sowohl auf "Reuchlins christliche Kabbala als eine Verschmelzung jüdischer und christlicher Mystik", als auch auf die italienischen Akademien sowie auf den Templerorden (Bolle, 1979, 35-36).

 

Die Ritterlegenden greifen auf biblische Geschichten zurück

 

Die Bildung der reichhaltigen Ritterlegenden nach 1740 führte zu einem immensen Symbolbedarf (Lennhoff/ Posner, 1932, Sp. 719-725, 845-847, 1156-1164, 1298-1300, 1317-1322, 1401-1411, 1446-1447, 1525-1528, 1548-1550, 1563-1565). Im Laufe der Zeit wurden fast alle biblischen Geschichten dafür geplündert.

Lennhoff/ Posner sprechen in diesem Zusammenhang auch von stuartistischer, jakobitischer oder schottischer Maurerei (französisch: Ecossisme), ja sogar von „christlicher“ Freimaurerei (275-276). Sie beschreiben diesbezüglich die schwedische Lehrart (1434-1437; vgl. 396-398), die in Deutschland durch Zinnendorf eingeführt wurde (353, 1243, 1751-1753).

 

Die wichtigen Schriften von René Le Forestier zu diesem Thema aus dem Jahre 1928 wurden 1970 von Antoine Faivre und Alec Mellor in einem Band (mit über 1100 Seiten) herausgegeben. Die deutsche Übersetzung davon erschien in vier Bänden unter dem Titel: „Die templerische und okkultistische Freimaurerei im 18. und 19. Jahrhundert“ 1987-92.

 

Aus der Gnosis?

 

Wieweit freumaurerische Symbole und Rituale aus dem gnostischen Gedankengut stammen, bleibt abzuklären. Das Wort „gnostisch“ kommt in den Nachschlagewerken meist nur in undifferenzierten Aufzählungen von geistigen Strömungen vor, beispielsweise bei Lennhoff/ Posner (1932, Sp. 416, 471, 614, 702, 734; vgl. dazu Biedermann, 1988, 190-191; Mellor, 1985, 346; Dosch, 1999, 132, 200; Reinalter, 2002, 10). Auch der Hochgradfreimaurer Fritz Bolle (1979, 34-35) spricht zweimal ohne nähere Erläuterung von gnostischen Elementen.

Otto Winkelmüller (1964, 22; ähnl. 25) nennt als Einflussfaktoren auf die Freimaurerei in kunterbunter Mischung: „Astronomie, Gnosis, Christentum, Humanismus, Ritterorden, geistliche Orden, etc.“

 

Rätselhaft ist ein langer Satz von Helmut Reinalter (2000, 47): „Die wichtigsten Texte des hermetischen Schriftencorpus setzten sich aus Gedanken der griechischen Philosophie, insbesondere des Platonismus, Neuplatonismus und Stoizismus, zusammen, wobei auch Elemente der persisch-babylonischen Religion und des Judentums hinzukamen und damit ein typisches Produkt der Gnosis darstellten.“

 

Deutlicher wird Reinhold Dosch: „In den freimaurerischen Erkenntnisstufen und Hochgraden erscheinen auch heute noch Elemente der Gnosis als Symbol und Ausdruck höchster menschlicher Weisheit“ (1999, 123). („Erkenntnisstufen“ gibt es in den Ritualen von Fessler.)

 

Auch in der anonymen Schrift „Die Entwicklung der Freimaurerei“ (1974, 16) steht zur Gnosis kühn formuliert: „Auch aus ihr hat das freimaurerische Gedankengut manches entnommen. Rückwirkungen finden wir auf die Martinisten und Ignaz A. Fessler, den Schöpfer eines freimaurerischen Rituals.“ Nur kurz äussert sich Daniel Ligou (1998, 528) zur Gnosis.

 

Etwas konkreter ist Franz Carl Endres. Er sieht eine mögliche Beziehung des Flammenden Sterns zur „gnostischen Mystik“ (1977, 86) und behauptet: „Die Gnosis kennt Erkennungswort, Zeichen und Griff“. Im Gamma im Sonnentempel der Gnostiker erfolgten „weiter Bekräftigungen des Winkelmasses und Vertiefungen des G der Geometria“ (86).

 

In seiner Zürcher Dissertation über den „Poimanderes“ (Tübingen: Mohr 1987) hat Jörg Büchli die wichtigsten Kennzeichen der Gnosis herausgestellt. Sie passen nicht zur Freimaurerei, z. B.:

·        die radikale Weltverachtung: die sichtbare Welt ist negativ, böse und finster

·        die Welt ist das Produkt einer göttlichen Tragik

·        der Mensch lebt in einer ihm fremden Welt

·        es gibt eine Erlösergestalt

·        die Mannweiblichkeit (Androgynität).

 

Aus der Mystik?

 

Ähnlich fragwürdig sind die Behauptungen, dass einiges an Symbolik aus der Mystik stamme (Lennhoff/ Posner, 450, 702, 979, 1088, 1147-1148, 1398, 1434, 1544; Dosch, 1999, 200).

Helmut Reinalter (2000, 10) verwirrt eher als er klärt, wenn er schreibt: „Inwieweit für die Freimaurerei die europäische Form der Mystik im Neuplatonismus bestimmend wurde, ist ungeklärt. Es könnten zumindest einzelne Elemente in die Freimaurerei und insbesondere in die Hochgrade eingeflossen sein. Erkenntnis als Schau der Vernunft in sich selbst und die oberste Stufe der Erkenntnis als ‚Schau des Höchsten’ weist zumindest auf das freimaurerische Gradsystem hin. Auch Mystik als Erfahrung und als starke Quelle menschlicher Kraft zeigt masonische Verbindungen auf.“

 

Manchmal ist ausdrücklich von ägyptischer und griechischer, jüdischer und christlicher, islamischer oder persischer Mystik die Rede.

 

Immerhin stellen Lennhoff/ Posner (1932, Sp. 1086) klar: „Königliche Kunst ist nicht an sich mystisch … An Stelle der Offenbarung von Geheimnissen setzt sie die Selbsterkenntnis, an Stelle der mystischen Vergewisserung der Unsterblichkeit die Pflichterfüllung bis zum Tode.“

 

Verwechslungen mit Mysterien sind nicht auszuschliessen. „Mystisch“ wird auch vielfach mit „theosophisch“ zusammengebracht.

 

In zahlreichen Schriften hat sich der Diakon und Theologe Gerhard Wehr zur Mystik geäussert und Lebensbilder von Mystikern gezeichnet. Sie haben wenig mit den Freimaurern gemeinsam. Diese sind weder „Gottesfreunde“ noch „gottsuchende Seelen“.

 

In Daniel Ligous „Dictionnaire de la franc-maçonnerie (1998) kommen die Stichworte Mystik und Hermetik, Astrologie und Neuplatonismus, usw. gar nicht vor.

 

Und immer wieder: Aus den Mysterien oder der Alchemie?

 

Von einem „Dark Room“ ist erstmals neben vielen anderen Praktiken (wie Teufelsbeschwörungen und Hexen, Leitern, Stricken und gezogenen Schwertern) in einem Pamphlet im Plain Dealer vom 14. September 1724 die Rede.

 

Das damit gemeinte Ritual könnte etwa so durchgeführt worden sein, wie es in „The Mystery of Free-Masonry“ (1730; auch „Grand Whims[e]y“ genannt) beschrieben ist:

„Question: How was you admitted?

Answer: When I came to the first Door, a Man with a drawn Sword asked me, If I had any Weapons. I answer’d, No. Upon which he let me pass by him in to a dark Entry; there two Wardens took me under each Arm and conducted me from Darkness into Light, passing thro’ two Rows of the Brotherhood.”

 

Ein Generalleutnant der Polizei von Paris, René Hérault, beschaffte sich 1737 von einer Tänzerin ein Ritual ihrer freimaurerischen Kunden und veröffentlichte es unter dem Titel „Réception d’un Frey-Maçon“ (Carr, 1984, 20-21). Darin wird der Kandidat eine ganze Stunde vor der Einweihung in völliger Dunkelheit gehalten, um ihn in die richtige Stimmung zu bringen. Nachher wird er dreimal um die Bodenzeichnung herumgeführt, wobei der Begleiter Harz („où de la Poudre, où de la Poix-raisine“) in eine Schale mit glühender Kohle wirft, sodass es zu einer grossen Flamme kommt, die der Kandidat auch mit verbunden Augen spüren musste. (Bei Lennhoff/ Posner (1932, Sp.1255) ist es Kolophonium, das in eine Flamme geworfen wurde.)

 

Das ist die Vorstufe der „Kammer des stillen Nachdenkens“ (in der englischen Schrift „Jachin and Boaz“, 1762: „Chamber of Contemplation“; später frz.: „Cabinet de Réflexion“) und der „Reisen“ oder „Proben“.

In den französischen Schriften der Jahre 1744-1751 ist häufig die Rede von drei oder dreimal drei Umgängen. Sie sollten den Kandidaten ermüden, aber auch erschrecken, denn die umstehenden Brüder rasselten mit ihren Säbeln oder klopften mit einem metallenen Gegenstand auf die Bijoux, welche auf ihren blauen Schärpen befestigt waren.

Als Elementenproben tauchen die drei Reisen erst um 1780 auf.

 

Laut Imhof (II, 72) stammen sie aus den alten Mysterien. Auch Endres meint: „Die Symbolik der Wanderungen ist urältestes Mysteriengut der Menschheit und spielt in allen antiken Mysterien ihre Rolle“ (1977, 76; ähnl. 78-83).

 

Laut Lennhoff/ Posner (1932, Sp. 1088) haben die Wanderungen des Neophyten „mystisch-symbolischen Charakter“.

 

Dosch bezieht sich auf eine andere Stelle bei Lennhoff/ Posner (1932, Sp. 690; vgl. 1148), wo sie den Schweizer Symboliker Oswald Wirth zitieren, und formuliert ungenau: „Die ‚Dunkle Kammer’ galt als ‚philosophisches Ei der Alchimisten’, die Elementprüfungen wurden alchimistisch übertragen“ (1999, 131). Auch Daniel Ligou (1998, 182, 25) sieht ihrer beider Herkunft aus der Alchemie, wobei er darauf hinweist, dass Ragon sie auf die antiken Mysterien zurückführen wollte (1998, 993).

Demgegenüber meint Otto Winkelmüller (1964, 21), die Wanderungen stammten aus dem Bauhandwerk und bezögen sich auf die „zur Pflicht gemachten Wanderjahre“.

 

Im Kapitel über die Kammer des stillen Nachdenkens bezieht sich Gottlieb Imhof (I, 63-65) sowohl auf die Alchimie als auch auf die Mysterien von Eleusis, ebenso Daniel Béresniak (1998, 22-25).

 

Meist schreibt man die Buchstabenfolge V.I.T.R.I.O.L., die in manchen Kammern des stillen Nachdenkens angeschrieben ist, der Alchemie zu. Sie steht für „Visita inf[t?]eriora terrae rectificando[que] invenies occultum lapidem [veram medicinam]“ (Erkunde das Innere der Erde und, durch Veredelung, wirst du den „Stein der Weisen“ finden; vgl. Imhof, I. 63-64). Laut Daniel Ligou stammt der Spruch jedoch von den Rosenkreuzern (1998, 24; dagegen 1268).

 

 

Teil III: 1780-1820: Konsolidierung zu über 20 Systemen

 

 

Gegen 1780 wurde es manchen Freimaurern zu bunt. Sie versuchten eine Rückkehr zum Ursprünglichen zu organisieren – was in vielen Fällen auch gelang.

 

Was bis heute aus der turbulenten Zeit geblieben ist, und von 1780-1820 konsolidiert wurde, sind etwa 20 Gruppen von Hochgraden oder Hochgradsystemen (im englischen Sprachgebrauch werden sie „additional degrees“, „side degrees“, "higher degrees", „concordant or appendant bodies“ oder „honorary and invitationals orders and degrees" genannt).

Weitere Systeme wurden erst im Laufe des 19. Jahrhunderts konsolidiert und institutionalisiert.

 

Eine kleine Liste am Schluss der Zusammenstellung:

Die frühen Hochgradsysteme der Freimaurerei

 

Die heute noch wichtigsten Hochgradsysteme

 

Bereits 1741 (in London) und 1750 (in Endinburgh) ist der Royal Order of Scotland nachgewiesen, 1765 (in Irland) und 1769 (in Boston) der Grad der High Knights Templar. Davon leiten sich die heutigen „Knights Templar“, die „Holy Royal Arch Knight Templar Priests“ und die „Knight Masons“ ab.

 

Von den neuen Ritualen bleiben: das Schwedische System (Karl Friedrich Eckleff; 1756-59), der Rite Français ou Rite Moderne (1775) sowie die Einzelgrade „Royal Arch“ (1743), „Mark Master“ (1769) und „Royal Ark Mariner“ (1780/90).

Für Deutschland modifizierte Johann Wilhelm Kellner von Zinnendorf seit 1768 das Schwedische System.

 

Im Laufe der Jahrhunderte unterschiedlich zusammengefasst wurden die Grade der „Royal and Select Masters“ (1761) sowie der Orden des „Secret Monitor“ (1778) und des „Red Cross of Constantine“ (1788).

 

1882 wurde am Kongress von Wilhelmsbad unter der Führung von Jean Baptiste Willermoz: aus der Strikten Observanz das Rektifizierte Schottische System (RSR). Dauernde Streitigkeiten verhinderten eine grössere Ausbreitung. Wie bei den irischen „Knight Masons“ spricht man auch beim RSR von der „grünen Maurerei“.

 

Für die Freimaurerei in den USA arbeitete 1797 Thomas Smith Webb den heute noch verwendeten Amerikanischen oder „York Rite“ aus. Es handelt sich dabei z. T. um eine Wiedergabe von William Prestons „Illustrations of Masonry“ (1772) und Bérages „Les Plus Secrets Mystères des Hauts Grades“ (1766).

 

1798 arbeitete Johann Friedrich Zöllner die christlichen Grade IV und V des Rituals der Grossen National-Mutterloge „Zu den drei Weltkugeln“ (GNML 3WK) aus, und zur gleichen Zeit schuf Ignaz Aurelius Fessler das Hochgradsystem für die Grosse Loge Royal York „Zur Freundschaft“ in Berlin mit „Erkenntnisstufen“.

 

1801 bildete sich in Charleston unter der Führung des Grafen Alexandre François Auguste de Grasse-Tilly der Alte und Angenommene Schottische Ritus (AASR; Farbe rot).

 

Die ägyptische Maurerei von Cagliostro (1775) konkretisierte sich im Misraim-Ritus (1805) und Memphis-Ritus (1814), welche sich ab 1876 zusammenschlossen.

 

 

Literatur

 

Daniel Béresniak: Symboles des Franc-Maçons. Paris: Editions Assouline 1997; erneut 2003;
dt.: Symbole der Freimaurer.
Wien: Brandstätter 1998;
engl.: Symbols of Freemasonry.
Paris: Assouline 1997 (printed in Italy); New York: Assouline 2000.

Hans Biedermann: Das verlorene Meisterwort. Bausteine zu einer Kultur- und Geistesgeschichte des Freimaurertums. Graz: Böhlaus Nachfolger 1986; Heyne Taschenbuch 1988.

Dieter A. Binder: Die diskrete Gesellschaft. Geschichte und Symbolik der Freimaurer. Graz: Styria Edition Kaleidoskop 1988, 2. Aufl. 1995;
als Herder Taschenbuch u. d. T.: Die Freimaurer, 1998, 2.
Aufl. 2000 (S. 375-393: Beschreibung der wichtigsten Symbole).

Charles von Bokor: Papes rois, francs-maçons. L’histoire de la franc-maçonnerie des origines à nos jours. Montréal: Ed. Québec-Amérique 1977;
dt.: Winkelmass und Zirkel. Die Geschichte der Freimaurer. Wien: Amalthea 1980; Taschenbuchausgabe Rastatt: Moewig 1982, erneut 1988.

Fritz Bolle: Forscher und Freimaurer. Über die Möglichkeit der Zusammenarbeit von Wissenschaft und Freimaurerei. In Peter Christian Ludz (Hrsg.): Geheime Gesellschaften. Heidelberg: Lambert Schneider 1979, 25-41.

Harry Carr: Harry Carr's World of Freemasonry. The Collected Papers and Talks of Harry Carr. London: Lewis Masonic 1984.

Henry Wilson Coil: Coil's Masonic Encyclopedia. Edited by William Moseley Brown, William L. Cummings, Harold Van Buren Voorhis. New York: Macoy Pub. & Masonic Supply Co. 1961; Neuausgabe Richmond, Va.: Macoy & Masonic 1995.

Michel Dierickx S. J.: Freimaurerei, die grosse Unbekannte. Frankfurt, Hamburg: Bauhütten-Verlag 1968 (holl. 1967); Neuausgabe Innsbruck: Edition zum rauhen Stein 1999.

Reinhold Dosch: Deutsches Freimaurer-Lexikon. Bonn: Die Bauhütte 1999.

Colin F. W. Dyer: Symbolism in Craft Freemasonry. Shepperton: A. Lewis 1976; Paperback London: Lewis Masonic 1983; Neuausgabe bei Lewis Masonic 1991.

Franz Carl Endres: Die Symbole des Freimaurers. Stuttgart: Moritz 1930; Neuausgabe Hamburg: Bauhütten Verlag 1977.

Michael W. Fischer: Die Aufklärung und ihr Gegenteil. Die Rolle der Geheimbünde in Wissenschaft und Politik. Habil.-Schrift Univ. Salzburg 1981; Berlin: Duncker & Humblot 1982.

Ludwig Hammermayer: Zur Geschichte der europäischen Freimaurerei und der Geheimgesellschaften im 18. Jahrhundert. Genese - Historiographie - Forschungsprobleme. In Eva H. Balazs et al. (Hrsg.): Beförderer der Aufklärung in Mittel- und Osteuropa. Freimaurer, Gesellschaften, Clubs. Berlin: Camen 1979, 9-68.

Gottlieb Imhof: Kleine Werklehre der Freimaurerei. I. Das Buch des Lehrlings. 4. Aufl. Bern: SGLA 1973 (zuerst Basel 1955); II. Das Buch des Gesellen. Bern: SGLA, 3. Aufl. 1972.

Douglas Knoop, Gwilym Peredur Jones: The Genesis of Freemasonry. 1948; erneut London 1978;
dt.: Die Genesis der Freimaurerei. Bayreuth: Quatuor Coronati 1968.

Walter Körting: ABaW – ein freimaurerisches Symbol. Hamburg: Bauhütten-Verlag 1971.

Eugen Lennhoff, Oskar Posner: Internationales Freimaurer-Lexikon. Wien 1932; unveränderte Nachdrucke, Wien: Amalthea-Verlag bis 1992.

Daniel Ligou: Dictionnnaire universel de la franc-maçonnerie. Paris 1974;
Neuausgabe u. d. T.: Dictionnaire de la franc-maçonnerie. Paris: Presses Universitaires de France 1987; erneut 1998.

Alec Mellor: La Franc-Maçonnerie à l’heure du choix. Tours: Mame 1967;
dt.: Logen, Rituale Hochgrade. Handbuch der Freimaurerei.
Graz: Styria 1967; Nachdruck 1985.

Philippe Henri Morbach: Von den Werkmaurern zu den modernen und spekulativen Freimaurern. In Günter Düriegl, Susanne Winkler (Hrsg.): Freimaurer: Solange die Welt besteht. 165. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, 18. September 1992 bis 10. Jänner 1993, 149-154.

Paul Naudon: Histoire générale de la Franc-Maçonnerie. 1981;
dt.: Geschichte der Freimaurerei. Fribourg: Office du Livre/ Frankfurt: Ullstein, Propyläen 1982.

Will-Erich Peuckert: Geheimkulte. Heidelberg: Pfeffer 1951 (635 Seiten); Reprint Hildesheim: Olms 1988; ungekürzte Taschenbuchausgabe München: Heyne 1997.

Helmut Reinalter: Die Freimaurer. München: Beck 2000; 3. Aufl. 2002.

Otto Winkelmüller: Die deutschen Bauhütten. Ihre Ordnungen und die Freimaurerei. Bad Harzburg: Karl Sasse 1964.

 



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