Die Londoner Rede von Philipp Friedrich Steinheil 1741
Aus: Karl Demeter: Die Frankfurter Loge zur Einigkeit 1742-1966. Frankfurt am Main: Waldemar Kramer 1967, 185-194, Erläuterungen dazu 37-38.
Das Original in: Le Franc-Maçon dans la République, ou Refléxions apologiques sur les persécutions de Franc-Maçons, 1746, 43-66, und Lettre ä l'auteur d'un ouvrage, Intitulé: Le Franc-Macon dans la république. 1747, 99-120.
Veränderte Fassungen: Quintessenz der ächten Freymaurerey, 1746 „Die Maurerei ist eine Verbindung einsichtsvoller Männer“, 1842, 1857, 1931
REDE von Br. Philipp Friedrich v. Steinheil in der Großloge von London anläßlich der Wahl eines Großmeisters im Jahre 1741 [10.3.1741].
Aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt von Br. Alexander Graf v. Klinckowstroem.
Ehrwürdigster Großmeister, und Sie, meine lieben und ehrwürdigen Brüder!
Wie sich im allgemeinen der Mensch durch seinen Adel von den übrigen Geschöpfen unterscheidet, ebenso unterscheidet sich der wahre freie Maurer von dem übrigen Menschengeschlecht. So groß, so edel der Mensch sich zwar vorkommen mag, so überragend man auch seine Glückseligkeit einschätzen mag — dieser Mensch erhebt sich zunächst keineswegs über die übrigen Lebewesen. Weit entfernt davon, daß er in dieser Hinsicht einen Vorrang genießt, scheint über seiner Geburt das Unglück geschwebt zu haben. Unter den heftigsten Schmerzen geboren, nackt in die Welt gesetzt, unselbständig und von allem entblößt, so zeigt ihn uns seine Wiege in einem Zustand, der des Mitleids wert ist.
Die Natur, die alle ihre übrigen Kinder so zärtlich liebt, scheint nur als Stiefmutter den Menschen anzusehen. Welcher Sorgen bedarf es, um ihn zunächst einmal am Leben zu erhalten, der kleinste Luftzug droht ihm den Lebensfaden abzuschneiden. Welche Mühen, seinen Körper aufzurichten, ihm den Gebrauch der Hände beizubringen! Aber insbesondere welche Arbeit, ihm den Geist zu bilden! Schließlich ist es der Fleiß, der dieses Stiefkind der Natur in seine Arme schließt und es so letzten Endes durch eine mühselige Erziehung von den Tieren unterscheidet. Dann erst beginnen angeborene Talente zur Geltung zu kommen, sein Körper erweist eine Geschicklichkeit und Geschmeidigkeit ohnegleichen, und indem sein Geist seine Kräfte entfaltet, betrachtet er die Welt, als sei sie nur für ihn gemacht.
In dieser glücklichen Situation ist dieser selbe glorreiche Mensch dennoch weit davon entfernt, seines Glückes Meister zu sein. Abgesehen von tausend finsteren Zufällen, die ständig seine Bahn kreuzen, ist der Sterbliche naturgemäß als Sklave seiner Leidenschaften geboren; die Wucht ihrer Aufwallungen stört jeden Augenblick die Ruhe und Süße des menschlichen Lebens. Immer wieder regt ihn die kleinste Sache auf oder irritiert ihn, läßt ihn hochgestimmt oder niedergeschlagen sein, läßt ihn erzittern oder betrübt ihn; und während er die ganze Erde beherrscht, wird er der Spielball seiner selbst und die Quelle all seines Ungemachs.
Um also unsere Tage in sanfter Ruhe zu genießen, da fühlen Sie wohl, meine Brüder, wie wichtig es uns ist, diese unversöhnlichen Feinde des menschlichen Geschlechts — allgemein Leidenschaften genannt — auszumerzen. Die Kunst, die uns zu solchem Glück führt, verdient zu recht, als göttlich bezeichnet zu werden, und die Schule, die sie uns lehrt, als der wahrhafte Tempel der Weisheit angesehen zu werden.
Aber wo ist diese wunderbare Schule zu finden? Ich lese es allgemein in Ihren Augen, meine Brüder, daß Sie mir zuvorkommen mit der einmütigen Antwort: Hier, im Schoße unserer erlauchten Bruderschaft. Ja, meine Brüder, es ist diese vortreffliche Kunst, die Maurerei, die uns in unübertroffener Weise den Weg bahnt zu einem so wünschenswerten Gut, und die uns die Tür öffnet zur höchsten Glückseligkeit, indem sie uns lehrt, unsere Wünsche zu zügeln.
Da ich heute die Pflicht habe, in Ihrer Gegenwart zu sprechen, welchen Ihrer Aufmerksamkeit würdigeren Gegenstand könnte ich wählen, als Ihnen die Erlesenheit und das wahre Ziel unserer großen Kunst vor Augen zu führen. Indessen verhehle ich mir nicht mein Unvermögen, einen so tiefgründigen Stoff würdig zu behandeln; ich muß Sie daher um Ihre Nachsicht bitten, denn diese allein kann meine geringe Fähigkeit ergänzen. Ich wage es also, mir zu schmeicheln, daß ich wenigstens Ihren Beifall erhalte für meinen Gehorsam gegenüber den Anordnungen unseres Ehrwürdigsten Meisters; und daß Sie mit Rücksicht darauf nicht meine Zeit für ganz verloren halten werden, wenn ich auch nicht das Glück haben sollte, Ihren Erwartungen zu entsprechen.
Es verhält sich, meine Brüder, mit unserer Göttlichen Kunst so, wie mit fast allen Dingen, die uns zur Bewunderung mit fortreißen; sie sind viel leichter zu beschreiben, als zu definieren. Ich wage es dennoch, in Erwartung irgend einer besseren Definition, es kühn auszusprechen, daß die Maurerei eine Kunst ist, die, indem sie uns durch das sanfte Band der Brüderlichkeit vereint, uns lehrt, in einem gemeinsamen Einklang zu arbeiten und unser Leben glücklich zu gestalten, indem das Angenehme mit dem Nützlichen vermischt wird. Dies, meine Brüder, ist das Bild, das mein schwacher Pinsel von unserer achtbaren Nährmutter macht.
Aber zweifellos wird mich jeder, der in Dunkelheit wandelt, fragen, welche Beziehung sich mit dem buchstäblichen Sinn des Wortes verbindet, welche Beziehung die Bezeichnung „Maurerei“ zu einer solchen Definition hat. Wir, denen es vergönnt ist, klarer zu sehen, wir spüren an den Wirkungen die Richtigkeit dieser Benennung, die symbolisch ist.
Der Werk-Maurer, immer den Zirkel und die Lotwaage in der Hand, gibt dem Formlosen Gestalt und errichtet Gebäude, um den Körper vor den Unbilden der Witterung zu schützen. Ganz genau so versucht der symbolische Maurer, wenn es gestattet ist, mich so auszudrücken, der grundsätzlich nur die Pflege der Seele und die Neubelebung des Geistes zum Ziel hat, alle seine Handlungen abzumessen und sie mit so viel Geradheit und Klugheit zu leiten, daß er sich dadurch einen undurchdringlichen Schutz schafft vor der Unbill der Unglücksfälle und der Widerwärtigkeiten.
Diese Arten von Erklärungen haben in sich nichts Neues. Wer weiß nicht, daß die alten Philosophen ihre tiefgründige Philosophie unter entlehnten Gegenstandsbildern vortrugen? Und welcher Gelehrte bedauert nicht den Verlust jener hieroglyphischen Wissenschaft der Ägypter, die einen Abgrund der Gelehrsamkeit umschloß?
Ihnen, meine Brüder, den ersten Ursprung unserer heilsamen Kunst zu nennen, ist eine nicht minder schwierige Aufgabe, sie scheint mir in dieser Beziehung dem Nil zu ähneln, der, aus sieben Quellen entspringend, denen sich noch kein Sterblicher jemals genähert hat, schließlich diesen berühmten Fluß bildet, der alle benachbarten Länder fruchtbar macht, wenn er über die Ufer tritt.
Es ist jedoch nicht zu bestreiten, daß, wenn die Maurerei auch unter den Alten nicht in der gleichen Form bestanden haben mag, in der wir sie heute blühen sehen, ihre Grundsätze unter den Weisen aller Zeiten bestanden haben, wovon uns die Antike sehr glänzende Züge liefert. Ohne eine Unzahl anderer zu erwähnen, ist die Schule des Pythagoras, an der man in so hervorragender Weise die Mäßigkeit und die Verachtung der Reichtümer, die Gesellschaft und das Geheimnis, die guten Sitten und die Enthaltsamkeit lehrte, zweifellos eine der berühmtesten Maurerlogen gewesen. Salomo, dessen Andenken unter uns so hochgeachtet wird, war weit weniger berühmt durch den prächtigen Tempel, den er gebaut hat, als durch all jene weisen Vorschriften gesunder Maurerei, die er uns hinterlassen hat, und die noch lange Zeit nach ihm in diesem stolzen Bauwerk gelehrt worden sind und bis heute seinen Ruhm unsterblich gemacht haben.
Um die Größe unserer Kunst voll in das Tageslicht zu rücken, zeigt nichts besser ihre Würde, als die allgemeinen Prinzipien, auf denen sie begründet ist, nämlich, um mich maurerisch auszudrücken: das Geheimnis, die Sittlichkeit und der feine Anstand [le Secret, la Moralité, & la bonne Compagnie].
Es ist überflüssig, meine Brüder, mich hier über die Nützlichkeit und die Notwendigkeit des ersten Artikels zu verbreiten. Äsop zeigte seinerzeit sehr scharfsinnig das große Übel und das große Gute auf, das aus dem Gebrauch der Sprache entstand; und nach ihm waren die Lakedämonier und die Römer große Meister in Verschwiegenheit [des grand Maitres en discretion]. Kurz gesagt, das Wohl nicht nur eines Mannes und einer Familie, sondern häufig auch das eines Landes und einer ganzen Nation hängt ab von einem indiskret fallen gelassenen Wort, und ein Mann, der nicht fähig ist, sein Geheimnis zu wahren, verdient nicht das Vertrauen seiner Gefährten und kann es auch nicht verdienen.
Da unsere erlauchte Kunst den Menschen nicht nach den Vorzügen wertet, die ein blindes Glück ihm zufällig beschert hat, sondern nach seinem inneren Wert, so ist es augenfällig, daß die guten Sitten [les bonnes meurs], welche untrennbar von der Tugend sind, ihrer Aufmerksamkeit nicht entgehen können. Aber die Sittlichkeit, von der ich hier sprechen muß, erkennt solche engen Grenzen nicht an. Sie umschließt in ihrer ganzen Ausdehnung jene sittliche Tugend selbst, die genau das erhabene Glück des Menschen in seinem Naturzustande ausmacht. Eingereiht unter den Fahnen dieser Tochter des Himmels, die allein das Geheimnis souverän kennt, den Menschen mit dem Menschen zu vereinen, schließen wir uns gewissenhaft aneinander nach ihren Weisungen. Von da her — indem wir uns auf die Stufe der Natur stellen — schätzen wir unseresgleichen nur, insoweit sie gut und nützlich sind. Von da her maßen wir uns niemals an, über jemand zu herrschen, erst recht nicht über sein Gewissen. Von da her entfernen wir schließlich alles, was die Sittsamkeit verletzt und was zu unserer Ruhe im Gegensatz steht. Als Folge dieser Grundsätze werden Disputationen über Religion, die auf einer wahren oder angeblichen Offenbarung begründet ist, absolut nicht unter uns geduldet. Die traurige Erfahrung hat gezeigt, wie schwierig es ist, wenn einer den anderen von seinen Grundsätzen überzeugen will, und wie oft frommer Eifer die Hand eines Bruders gegen den Bruder bewaffnet hat. Um alle diese Diskussionen zu vermeiden, deren Entscheidung keineswegs in unser Aufgabengebiet fällt, enthalten wir uns sogar, über Religion zu sprechen, so geheiligt sie uns andererseits auch sei, um nicht dadurch die Gesetze einer moralischen Gesellschaft zu verletzen. Aus dem gleichen Grunde verbannen wir aus unseren Versammlungen alle Gespräche über Politik, die nicht selten selbst unter den besten Freunden Zwietracht sät, und, da die Zote schließlich unvereinbar mit dem Charakter und der Würde der Tugend ist, kann sie nur da verschwinden, wo letztere ihren Thron errichtet hat.
Obgleich der feine Anstand [la bonne Compagnie], das dritte Prinzip, eine notwendige Folge der Sittlichkeit zu sein scheint, verdient er doch einen besonderen Platz, da er uns mehr im einzelnen die Pflichten der Gesellschaft vorschreibt. Er ist es, der uns lehrt, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden, wenn wir uns in Gesellschaft mit unseren Brüdern befinden. Er ist es, der uns dazu bringt, daß wir versuchen, ihnen durch eine ungezwungene, geistige und fröhliche Unterhaltung zu gefallen in diesen Ruhestunden, die zur Freude und Entspannung bestimmt sind. Er ist es schließlich, der uns lehrt, jene Klippen der Gesellschaft zu vermeiden: daß man sich durch all zu viel Vertraulichkeit oder durch lächerliche Plattheiten verächtlich macht oder, daß man sich sogar verhaßt macht durch ein Gehabe von Überlegenheit, durch Widerspruchsgeist oder durch indiskretes und unschickliches Geschwätz.
So edle, so beständige Grundsätze können nicht gut etwas anderes im Auge haben als ein ebenso rühmliches wie solides Ziel. Dieses so wünschenswerte, so beneidenswerte Ziel habe ich Ihnen schon angedeutet, meine Brüder; es ist nicht mehr und nicht weniger, als daß wir uns einen Weg weisen, um das Glück unseres Lebens zu sichern, indem wir es ebenso nützlich, wie angenehm gestalten.
Wir selbst sind es also, die wir zum Gegenstand unserer erlauchten Kunst machen. Auf uns selbst strahlen die glücklichen Wirkungen dieser unvergleichlichen Wissenschaft zurück. Ja, meine Brüder, wir selbst sind die harten, ungeformten, holperigen Steine, welche wir als gute und fleißige Maurer mit dem Zirkel und dem Winkelmaß der Tugend, die nichts mißgestaltetes erträgt, kubisch zu machen versuchen müssen. Wenn wir in dieser Weise an uns selbst arbeiten, wer sieht dann noch nicht, daß unsere Logen wahrhaft Tempel sind und darstellen, in denen man der Weisheit opfert.
Um zum glücklichen Ende zu gelangen, das wir uns vornehmen, ist es gut, zu wissen, daß nur die Liebe und die Übung der Tugend [l’amour & la pratique da la vertu] uns dahin leiten kann. Ihren Richtlinien kommt uneingeschränkt die Ehre zu, uns zum Gipfel eines dauerhaften und stillen Glücks zu führen. In richtiger Erwägung dessen ist es einerseits unsere Pflicht, immer unter uns jenen ehrgeizigen Wetteifer für das Gute aufrechtzuerhalten, während wir andererseits sorgsam daran arbeiten, die unheilvollen Leidenschaften auszurotten, die Feinde des menschlichen Geschlechtes sind und uns die Ruhe unserer Tage nehmen, indem sie uns mit ihrem Ungestüm peinigen. Denn unter uns kennen wir nicht jene Ausbrüche einer hochmütigen Arroganz, eines unersättlichen Geizes oder einer zügellosen Wollust, denen sich die übrigen Sterblichen hingeben. Die wahre Ehre unter uns besteht darin, wahrhaft gut zu sein. Da unsere Schätze uns allen gemeinsam gehören, sind wir alle reich, und wenn wir unsere Vergnügungen gemäß der Stimme der Klugheit mäßigen, dann kosten wir alle ihre Süße, ohne dabei Reue und Bitterkeit kennenzulernen.
Diese Denkweisen sind mehr als ausreichend, um uns beim schönen Geschlecht dafür zu entschuldigen, daß wir uns die Freiheit nehmen, es bei unseren Versammlungen auszuschließen. Schließlich sollte sich ein weiser Lotse nicht aus Mutwillen auf ein vom Gewittersturm aufgewühltes Meer hinaus begeben; und wer fühlt nicht, wie sehr die weisen Richtlinien, die wir unter uns pflegen, und jene Freiheit, die wir zu unserem Beruf machen, in die bedrohliche Lage bringen, so gefährlichen Klippen trotzen zu wollen, wie es die verführerischen Augen einer attraktiven Schönheit sind.
Aber gerade darin liegt ursprünglich das große Ziel der Maurerei, die Ausbrüche unserer Willenskraft zu unterdrücken und unsere Leidenschaften zu zähmen. Dies erweist sich am allerdeutlichsten, nicht nur weil wir uns dazu öffentlich bekennen, sondern jene Eigenschaft Frank und Frei, die wir vornehmlich für uns in Anspruch nehmen, und die sozusagen unser Charakteristikum ist, kennzeichnet es bereits ausreichend. Denn welcher Sterbliche könnte es wagen, sich ein solches Kennzeichen beizulegen, als der, der Meister seiner selbst ist?
So ernst und wichtig auch die Aufgaben sein mögen, die unsere glückliche Wissenschaft uns auferlegt, sie tut es keineswegs mit solcher Unbedingtheit oder Strenge, uns der erlaubten Freuden unseres Lebens berauben zu wollen. Weit davon entfernt, ist sie selbst es, die uns lehrt, angenehm zu leben und in unseren Zusammenkünften mit Zurückhaltung Freude und Heiterkeit zu verbreiten, während jener Stunden der Entspannung, die ein mühsames Leben aufheitern.
Ich stelle mir in diesen Augenblicken unsere Kunst vor in der Person einer sittsamen und wohlgewogenen Mutter, die mit der Erziehung ihrer Kinder beschäftigt ist. Indem sie ihre Belehrungen mit ihrer Zärtlichkeit vereint, trachtet sie danach, sie frühzeitig daran zu gewöhnen, auf dem Pfade der Tugend zu wandeln, und versucht, ihnen die Liebe zur Weisheit einzuflößen. Sie gewöhnt sie vor allem an Beharrlichkeit und an Arbeit und impft ihnen die Abneigung gegen die Faulheit ein. Diese Tugend, die sie ihnen schon mit der Muttermilch eingibt, ist indes keineswegs so streng, daß sie ihnen nicht erlaubt, ihre Erholung zu haben. Spielt — wird sie sagen — meine Kinder; erholt euch; das ist euch erlaubt; aber hütet euch wohl davor, Böses zu tun. Da haben Sie also Zug für Zug unsere gute und sanfte Mutter, deren liebe Säuglinge zu sein wir das Glück haben. Sie werden sie allzugut kennen, meine Brüder. Daher glaube ich, ist es nicht erforderlich, hierauf weiter einzugehen.
Durch alles, was ich bisher gesagt habe, wird augenfällig, wie hoch ein rechtschaffener Maurer geachtet werden muß; außerdem wird dadurch offenbar, daß diese Eigenschaft keineswegs zu jenen gehört, die so leicht zu erwerben sind. Die drei Säulen des Salomonischen Tempels, die traditionsgemäß Stärke, Weisheit und Schönheit genannt werden, scheinen mir seinen ganzen Charakter auszudrücken. Er benötigt viel Stärke, um seine Aufgabe gut anzupacken; nicht weniger Weisheit, um sie durchzuführen, und, wenn er einmal in den beiden ersten Punkten erfolgreich war, wird eine gewisse Anmut, die geistvoll seine Handlungen durchzieht, diesen ohne Zweifel Schönheit und große Zierde verleihen.
Es ist eines der erlauchtesten Zeugnisse für die Rechtschaffenheit und die Größe unserer Kunst, daß große Fürsten es nicht verschmäht haben, in ihre Geheimnisse eingeweiht zu werden; mit Rücksicht auf die richtige Vorstellung, die sie vom Adel dieser Grundsätze empfangen hatten, aber auch, weil sie ständig daran Freude haben und sie in Schutz nehmen. Das soll uns aber keineswegs mit einem leeren Dünkel erfüllen, sondern uns als Ansporn dienen, um uns anzufeuern, damit wir uns der Ehre würdig zeigen, die uns Souveräne erweisen, indem sie zu uns herabsteigen; wir sollen uns dann mit unseren Gefühlen bis zu ihrer Thron erheben.
Ist jemand nach so glänzenden Auszeichnungen noch so schwach, um den finsteren Verleumdungen Glauben zu schenken, die unsere Feinde über uns verbreiten, oder den falschen Eindrücken zu erliegen, welche sich die Unwissenden machen: die einen, indem sie unsere Versammlungen als Schlupfwinkel der Verderbnis ansehen, und die anderen, die sie in ihrer Blindheit als ihrer Beachtung unwürdig ansehen. Die ersteren betrachten wir mit gerechter Verachtung, die letzteren mit einem mitleidigen Blick. Aber nichts anderes sollte uns mehr als jene Auffassungen dazu anregen, daß wir niemals nachlassen sollten, gemeinschaftlich daran zu arbeiten, unseren Gegnern den gehörigen Respekt gegenüber unserer Gesellschaft einzuflößen und jene Meinungen durch unser Verhalten zunichte zu machen — sowohl innerhalb als auch außerhalb unserer Versammlungen. Aber ich muß mit tief empfundenem Bedauern gestehen, daß es unter unseren Brüdern nicht an solchen fehlt, die durch ihr unordentliches Betragen jene Verdächtigungen zu bestätigen scheinen. Sie klammem sich lediglich an der Rinde an und wenig an dem Kern; dadurch scheinen sie sich selbst überzeugen zu wollen, daß dieser ehrwürdige Orden nur dazu gegründet worden sei, um eine Schule der Trunksucht und der Liederlichkeit zu sein; den Drohnen vergleichbar, besteht ihr ganzer Fleiß nur darin, den Honig der Bienen zu plündern und deren Ruhe zu stören.
Andererseits nehmen wir mal für einen Augenblick zusammen mit unseren Widersachern an, daß die Maurerei ein Nichts sei; kann nicht der Weise dennoch ein gleichgültiges Nichts in sich selbst zu seinem großen Vorteil wenden? Haben nicht die schönsten Erfindungen sehr häufig ihren Ursprung in den niedrigsten Dingen? Wer hätte in vergangenen Zeiten geglaubt, daß man aus gehäckseltem Stroh einmal schöne Bilder machen würde, und wer von den Alten hätte die unschätzbare Erfindung des Papiers vorausgeahnt? Es würde uns also auch ziemen, sollte die Maurerei selbst nichts weiter sein als ein Gedankenspiel, eine ideelle Angelegenheit, daß wir dennoch daraus, da es in unserem Vermögen liegt, eine so wirkliche und dauerhafte Sache machen, daß sie sogar als die Grundlage unseres Wohlstandes und als das Ziel all unserer Wünsche angesehen werden muß.
Um Ihnen im Gegenteil eine richtigere Vorstellung von der Vortrefflichkeit unserer Kunst zu geben, muß ich sie, so wie sie sich zunächst zeigt, mit einem schönen, aber noch rohen Diamanten vergleichen. Der Unwissende, der sehr dem Irrtum unterworfen ist, wird ihn mit einem Kieselstein verwechseln und ihn mit Füßen treten. Der kluge Kenner dagegen, der den Wert besser kennt, wird sich daran machen, ihn zu schleifen, und stellt schließlich daraus jenen strahlenden Stein her, dessen Feuer von aller Welt bewundert wird. So, meine Brüder, ist es mit der Maurerei; aber nicht alle diejenigen, die sich des Titels „Bruder“ rühmen, haben — das ist wahr — das Glück, ihn zu verdienen. Es ist mit guten Maurern, wie mit guten Dichtern; man muß als solcher geboren werden. Es ist eben keineswegs jedermann gestattet, diesen Rohdiamanten zu schleifen. Dem einen fehlt das dazu erforderliche Talent, dem anderen der Fleiß und das eifrige Streben. Daher kommt es, daß dieses Kleinod in den Händen der einen niemals Glanz bekommt, oder in den Händen der anderen verdorben und vergeudet wird.
Ja, ich habe es ausgesprochen, meine Brüder, und ich könnte mich davon nicht mehr distanzieren, meine Brüder: Um ein guter Maurer zu sein, muß man bereits als Maurer geboren sein. Sehen wir uns einmal etwas an, welches die ehrwürdigen Merkmale dieser eigenartigen Größe sind.
Der wahre Maurer ist ein beneidenswerter Mann [Le veritable Maçon est un homme digne d’envie]. Mäßigkeit und Klugheit leiten alle seine Schritte. Respektvoll seinen Vorgesetzten gegenüber, gesellig und höflich gegenüber den ihm Gleichgestellten, mitfühlend und menschlich zu den unter ihm Stehenden; so gibt er jedem, was dieser fordern kann. Seine Pflicht bildet immer seine Hauptbeschäftigung. Er ist gemäßigt in seinen Wünschen, bescheiden in seinem Auftreten, leutselig im Gespräch, zurückhaltend in seiner Sprache, umsichtig in seinen Handlungen, ein liebevoller Bruder, treuer Freund, und welche unzählbare Menge von anderen schönen Eigenschaften — zu lang, um sie wiederzugeben, — hat er nicht? Es ist also keineswegs so leicht, diese Vollkommenheit anzustreben, welche die Seele unserer Gesellschaft ist, aber zumindest sollten wir immer versuchen, uns ihr so weit als möglich anzunähern.
Von da her müssen wir auch verstehen, wie schwer es ist, an der Spitze einer so erlauchten Körperschaft zu stehen. Unsere Vorfahren haben sehr gut die ganze Bedeutung dessen erkannt, indem sie einen Meister vom Stuhl als das große Tagesgestirn vorstellen, nach dessen Vorbild er alles erleuchten soll, das Gute und das Schlechte entdecken, den einen nicht mehr als den anderen begünstigen, immer seinen geraden Weg gehen und schließlich durch seine Sanftheit, Güte und Klugheit das Corps beleben und festigen soll, das nur durch ihn zu bestehen scheint.
Da ich mich hier an einem so schönen Ort befinde, sehe ich, meine Brüder, und Ihre Blicke sagen es mir, wie sehr Sie das Glück empfinden, sich heute von einem Oberhaupt regiert zu sehen, dessen weises Benehmen, edler Eifer und einnehmende Menschlichkeit Gegenstand ebenso Ihrer Bewunderung wie Befriedigung und Dankbarkeit ist. Da wir ebenso lebhaft wie Sie die Sorgfalt empfinden, die er für das Wohl unserer Bruderschaft im allgemeinen an den Tag legt, sowie das Wohlwollen, mit dem er speziell unsere Loge zu beehren geruht hat, wollen wir uns zusammentun, um ihm hier öffentlich die Versicherung unserer aufrichtigen Anhänglichkeit und unserer brüderlichen Zuneigung darzubringen; dabei wünschen wir, daß dieses beschwerliche Amt, das er mit so viel Würde erfüllt, möge begleitet und gefolgt sein von ebenso vielerlei Glück, zu dessen unwandelbarem Gedeihen wir unsere Wünsche darbringen.
Ich fühle, meine Brüder, daß meine Rede die rechten Grenzen überschreitet im Verhältnis zum Reichtum des Stoffes; und ich fühle auch, daß ich Ihre Geduld mißbrauche! Ich habe die ersten Elemente unserer wunderbaren Kunst nur leicht skizziert; und ich würde nie damit fertig werden, wenn ich den Anspruch wagen würde, diese Arbeit zu vollenden. Aber ich muß meinen Feuereifer um so mehr zurückhalten, als ich mir bewußt bin, zu schwach zu sein für eine solche Aufgabe, und das wenige Wissen, das ich in unserer vortrefflichen Wissenschaft habe, das habe ich ja von Ihnen selbst, meine Brüder. Möge sie immer blühen und durch ebenso eifrige Jünger vorangetrieben werden, wie ich solche in Ihnen allgemein sehe. Möge sie auch, indem sie die Früchte dieser weisen Lehren über uns ausschüttet, immer mehr und mehr diese harmonische Einigkeit festigen, die so glücklich unter uns herrscht.
Erfüllt von diesen Gefühlen vereinigen Sie sich alle mit mir, meine Brüder, lassen Sie uns preisen den Großen Baumeister der Welt, der, als er uns als Menschen geboren werden ließ, die Gunst hinzugefügt hat, auf die wir besonders stolz sind, daß wir mit Zuversicht tragen können den ehrwürdigsten Namen frank und freier Maurer.
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