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                     Ernst Mach: Erkenntnis und Irrtum (1905)

 

Basierend auf einer Vorlesung im Winter 1895/96 über „Psychologie und Logik der Forschung“.

 

Kapitel I

Philosophisches und naturwissenschaftliches Denken

pp. 2-3

 

2. Das Ziel des vulgären Vorstellungslebens ist die gedankliche Ergänzung, Vervollständigung einer teilweise beobachteten Tatsache. Der Jäger stellt sich die Lebensweise eines eben erspähten Beutetiers vor, um danach sein eigenes Verhalten zweckentsprechend zu wählen. Der Landwirt denkt an den passenden Nährboden, die richtige Aussaat, die Zeit der Fruchtreife einer Pflanze, die er zu kultivieren gedenkt. Diesen Zug der gedanklichen Ergänzung einer Tatsache aus einem gegebenen Teil hat das wissenschaftliche Denken mit dem vulgären gemein. Auch Galilei will nichts anderes, als den ganzen Verlauf der Bewegung sich vergegenwärtigen, wenn die anfängliche Geschwindigkeit und Richtung eines geworfenen Steines gegeben ist.

 

Allein durch einen andern Zug unterscheidet sich das wissenschaftliche Denken vom vulgären oft sehr bedeutend. Das vulgäre Denken, wenigstens in seinen Anfängen, dient praktischen Zwecken, zunächst der Befriedigung leiblicher Bedürfnisse. Das erstarkte wissenschaftliche Denken schafft sich seine eigenen Ziele, sucht sich selbst zu befriedigen, jede intellektuelle Unbehaglichkeit zu beseitigen. Im Dienste praktischer Zwecke gewachsen, wird es sein eigener Herr. Das vulgäre Denken dient nicht reinen Erkenntniszwecken, und leidet deshalb an mancherlei Mängeln, welche auch dem von diesem abstammenden wissenschaftlichen Denken anfänglich anhaften. Von diesen befreit sich letzteres nur sehr allmählich. Jeder Rückblick auf eine vorausgehende Periode lehrt, dass wissenschaftliches Denken in seinem Fortschritt in einer unausgesetzten Korrektur des vulgären Denkens besteht. Mit dem Wachsen der Kultur äußert aber das wissenschaftliche Denken seine Rückwirkung auch auf jenes Denken, welches praktischen Zwecken dient. Mehr und mehr wird das vulgäre durch das vom wissenschaftlichen durchdrungene technische Denken eingeschränkt und vertreten.

 

3. Die Abbildung der Tatsachen in Gedanken, oder die Anpassung der Gedanken an die Tatsachen, ermöglicht dem Denken, nur teilweise beobachtete Tatsachen gedanklich zu ergänzen, soweit die Ergänzung durch den beobachteten Teil bestimmt ist. Die Bestimmung besteht in der Abhängigkeit der Merkmale der Tatsachen voneinander, auf welche somit das Denken auszugehen hat. Da nun das vulgäre und auch das beginnende wissenschaftliche Denken sich mit einer recht rohen Anpassung der Gedanken an die Tatsachen begnügen muss, so stimmen auch die den Tatsachen angepassten Gedanken untereinander nicht vollständig überein.

 

Anpassung der Gedanken aneinander ist also die weitere Aufgabe, welche das Denken zu seiner vollen Befriedigung lösen muss. Dies letztere Streben, welches die logische Läuterung des Denkens bedingt, aber weit über dieses Ziel hinausragt, kennzeichnet vorzugsweise die Wissenschaft im Gegensatz zum vulgären Denken. Letzteres genügt sich, wenn es nur ungefähr der Verwirklichung praktischer Zwecke dient.

 

[Vgl. bereits den schönen Aufsatz „Umbildung und Anpassung im naturwissenschaftlichen Denken“ (1883) in „Populärwissenschaftliche Vorlesungen“ (Leipzig: Barth 1896; 4. Aufl. 1910, 244-265), in welchem er überdies behauptet, dass er den grundlegenden Gedanken schon 1866 gehabt habe.]

 

Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und aneinander

pp. 164-165,

 

1. Die Vorstellungen passen sich den Tatsachen allmählich so an, dass sie ein den biologischen Bedürfnissen entsprechendes, hinreichend genaues Abbild der ersteren darstellen. Natürlich reicht die Genauigkeit der Anpassung nicht weiter als die augenblicklichen Interessen und Umstände es forderten, unter welchen dieselbe stattfand. Da aber diese Interessen und Umstände von Fall zu Fall wechseln, so stimmen die Anpassungsergebnisse verschiedener Fälle nicht genau untereinander überein. Das biologische Interesse treibt nun wieder zur Korrektur verschiedener Abbildungsergebnisse durch einander, zu dem bestmöglichen, vorteilhaftesten Ausgleich der Abweichungen. Diese Forderung wird erfüllt durch Vereinigung des Prinzips der Permanenz mit jenem der zureichenden Differenzierung der Vorstellungen.

 

Die beiden Prozesse, der Anpassung der Vorstellungen an die Tatsachen und der Anpassung der ersteren aneinander, lassen sich in Wirklichkeit nicht scharf trennen. Werden die ersten Sinneseindrücke schon durch die angeborene und temporäre Stimmung des Organismus mit bestimmt, so erscheinen die späteren Sinneseindrücke schon durch die früheren beeinflusst. So ist also fast immer der erste Prozess schon durch den zweiten kompliziert. Diese Prozesse vollziehen sich zuerst ohne Absicht und ohne klares Bewusstsein. Wir finden ja, wenn wir zu vollem Bewusstsein erwachen, schon ein recht reiches Weltbild in uns vor. Später aber zeigt sich ein ganz allmählicher Übergang zu klar bewusster und absichtlicher Fortsetzung der beiden Prozesse, und sobald dieser eingetreten ist, beginnt eben die Forschung. Die Anpassung der Gedanken an die Tatsachen, wie wir jetzt besser sagen wollen, bezeichnen wir als Beobachtung, die Anpassung der Gedanken aneinander aber als Theorie. Auch Beobachtung und Theorie sind nicht scharf zu trennen, denn fast jede Beobachtung ist schon durch die Theorie beeinflusst und äussert bei genügender Wichtigkeit anderseits ihre Rückwirkung auf die Theorie.

 



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